Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Leyla eine Bedrohung für unsere Familie darstellen könnte, aber mit der Zeit wurde es doch immer offensichtlicher. Dennoch gehörte sie schon bald einfach mit dazu, sodass Meli, als sie in der Schule ein Bild von ihrer Familie zeichnen sollte, sechs Personen zeichnete und jeweils darüberschrieb, wer es war: »Papa, Mama, Mourad, Meral und ich«, außerdem »Leyla«, und dazu schrieb sie: »Unser Besuch«.
Oft bekamen mein Bruder und ich mit, wie mein Vater »unseren Besuch«, kaum war Elke aus dem Haus, zu sich ins Schlafzimmer rief. Mourad und ich grinsten dann böse und sagten Sachen wie: »Jetzt vögeln die wieder miteinander.« Aber das fühlte sich komisch an, denn schließlich war Hamid unser Vater. Eine halbe Stunde später tauchten die beiden dann wieder auf und duschten.
Leyla konnte besser kochen als ich und bereitete meinem Vater die leckersten arabischen Gerichte zu: Hühnchen mit Safran und Rosinen, lauter Sachen, die mein Vater bei Elke vermisste. Und dann lobte er sie, und Leyla strahlte stolz, und so nett ich sie fand, desto öfter ertappte ich mich bei dem Gedanken: »Was hat sie eigentlich bei uns verloren?«
Wieder einmal war ich an Elkes Stelle wachsam, ja eifersüchtig, während ihr die Anwesenheit dieser nordafrikanischen Schönheit überhaupt nichts auszumachen schien. Leyla hatte zwar viel von ihrem ursprünglichen Zauber eingebüßt, denn mein Vater sorgte dafür, dass sie ihre schönen, femininen Kleider ablegte und genau wie Elke nur noch weite, sackartige Klamotten trug, Schlabberjeans und weite Sweatshirts, die ihre Weiblichkeit versteckten. Dennoch konnte ich mir gut vorstellen, dass mein Vater in ihr die ideale Frau sah: aus seinem Kulturkreis stammend, jung, attraktiv und ihm vollkommen ergeben.
Mein Vater wurde immer dreister. Irgendwann besaß er einen Schlüsselanhänger, auf dem »Hamid & Leyla« eingraviert war.
»Ich und Leyla werden bald heiraten«, sagte er, wie im Spaß dabei lachend, doch ich ahnte, dass in diesem Scherz zumindest ein wahrer Kern stecken musste. Dieser Satz fiel immer wieder, und eines Abends sagte er zu Elke: »Du kannst Leyla ja rausschmeißen. Wenn sie dich stört, dann schick sie einfach weg!« Dabei wusste er doch ganz genau, dass Elke das nie wagen würde. Oder anders gesagt: Schon allein dieses »Angebot« musste bei einer vertrauensvollen Frau wie Elke, die ihren Mann abgöttisch liebte und alles glaubte, was er zu ihr sagte, jeden Argwohn zerstreuen. Sie konnte Leyla ja jederzeit wegschicken, das hatte Hamid ihr gesagt. In diesem Fall war es gar nicht nötig, es auch zu tun. Denn zeigte es nicht, dass Hamid gar nicht besonders viel an dem Mädchen lag? Und wenn dem so war, wollte Elke nicht so kaltherzig sein und Leyla, die inzwischen ohne Aufenthaltsgenehmigung illegal in Deutschland lebte, ins Unglück stürzen.
Es würde mich nicht wundern, wenn mein Vater all diese Gedankengänge und Gefühlsachterbahnen mit seinem Verhalten lenkte, und zwar in die Richtung, die ihm am angenehmsten war. Mein Vater war ein Meister der Manipulation, und so schaffte er es tatsächlich, mitten im Deutschland der Neunzigerjahre eine Ehefrau und eine Mätresse unter demselben Dach zu halten, ohne dass sich die beiden die Augen auskratzten. Was Leyla eigentlich bei uns wollte, verstand ich erst später, als sie sich mir offenbarte. Aber in diesem ersten Jahr unseres Zusammenlebens empfand ich sie als störend und lästig. Sie hatte bei uns nichts zu suchen, fand ich, und so quälte ich sie auf meine Weise mit Nichtbeachtung und unfreundlichen Worten. Am liebsten hätte ich so getan, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Doch Leyla war da, ob ich es wollte oder nicht. Mit einer außerordentlichen Geduld schien sie die ganze Zeit auf etwas zu warten, während der sie bei uns zu Hause herumsaß, wenn sie nicht gerade im Haushalt mithalf. Doch worauf wartete Leyla? Dass Elke starb, so wie Kornelia damals? Dass Hamid mit ihr durchbrannte? Oder war es ihr Recht, für ein Bett, Essen und ein Dach über dem Kopf die heimliche Geliebte des Hausherrn zu sein? Ich verstand Leyla nicht, doch hatte ich meine eigenen Sorgen, und die nicht zu knapp. Inzwischen waren wir also drei Frauen – Meli nicht eingerechnet, die noch zu klein war und außerdem ohnehin einen Sonderstatus genoss –, die wie ängstliche Sonnenblumen ihre Köpfe samt Denken und Fühlen auf die geringsten Bewegungen meines Vaters ausrichteten, jede von uns mit anderen Ängsten und Hoffnungen erfüllt. Wenn
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