Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
alle Kinder um uns herum, schweigend bildeten sie einen Kreis um uns und starrten auf mich und auf Christoph herunter. Für alle, die mitbekommen hatten, wie mich Christoph an Tag zuvor zu Boden geschlagen hatte, war klar, dass ich das organisiert hatte, um mich zu rächen.
Während Christoph mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde, saß ich im Büro des Schuldirektors. Mehrere meiner Lehrer waren dabei, und ich sah die Enttäuschung in ihren Gesichtern: Eine solche heimtückische Tat hatten sie mir nicht zugetraut. Der Direktor redete auf mich ein, erklärte mir Dinge, die ich alle wusste und die ich sofort unterschrieben hätte, nämlich dass man Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten dürfe und so weiter und so fort. Ich saß einfach nur da und musste selbst mit dem fertig werden, was gerade geschehen war. Mir dämmerte, dass ich keine Chance hatte, die Sache richtigzustellen. Ich konnte schließlich meinen Vater nicht verraten.
»… und wir haben deinen Vater einbestellt«, hörte ich den Direktor sagen. »Der kommt jetzt gleich.«
Normalerweise hätte mich diese Nachricht in Todesangst versetzt. Nun aber atmete ich auf. »Er wird alles regeln«, dachte ich erleichtert. Wie sehr ich mich doch täuschen sollte.
Als mein Vater kam, frisch geduscht und das Unschuldslamm in Person, sagte der Direktor, dass er zunächst allein mit ihm sprechen wolle. Als ich eine Weile später ins Zimmer gerufen wurde, glaubte ich zu träumen. Mein Vater, der doch seine Brüder auf meinen Mitschüler gehetzt hatte, hielt mir eine empörte Standpauke.
»Ich versteh das nicht, Meral«, sagte er zu mir, »das kannst du doch nicht machen! Das ist brutal, ist dir das nicht klar? Ich bin sehr enttäuscht von dir. Was sollen die Leute denken, mit denen ich gemeinsam für eine friedliche Welt kämpfe? Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass man Gewalt nicht so beantworten darf …« Und so weiter und so fort. Ich konnte es nicht fassen.
Als die beiden endlich fertig mit mir waren, verabschiedete sich mein Vater höflich von meinem Schuldirektor.
»Vielen Dank, Herr Al-Mer«, sagte der und drückte meinem Vater herzlich die Hand.
»Kein Problem, Herr Direktor!«
Und damit war er fort. Selten in meinem Leben habe ich mich so verraten gefühlt.
Meine Onkel hatten Christoph das Jochbein gebrochen. Gegen die beiden und gegen mich wurde Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Eines Tages flatterte die Anklageschrift mit dem Gerichtstermin ins Haus. Für die Verhandlung bekam ich schulfrei. Und mein Vater regte sich fürchterlich darüber auf, dass er »immer solchen Ärger« mit mir hätte.
Ich glaube, inzwischen war er selbst von der Version felsenfest überzeugt, dass ich meine Onkel zu dem Racheakt angestachelt hätte. »Was du aber auch immer für einen Scheiß baust«, musste ich mir anhören.
Am Ende wurden wir dazu verurteilt, für einen gemeinnützigen Zweck Kuchen zu backen. Elke war es schließlich, die diese Kuchen machte und zu irgendeinem Kindergarten fuhr. Und mein Vater blieb gereizt und wütend auf mich, die in seiner neuen, verdrehten Version das alles verursacht hatte. Hätte ich nicht mit diesem Kerl rumgemacht, hätte er mich auch nicht geschlagen. Dann wäre das alles gar nicht passiert. »Vor Gericht muss man wegen diesem Stück Dreck!«, schrie er. »Es wird Zeit, dass ich sie in die Türkei schaffe und dort verheirate!«
Ich war die Schuldige und hatte in seinen Augen noch lange nicht genug dafür gebüßt.
Eines Tages bemerkte ich, dass mein Vater eifrig in der Garage beschäftigt war. Mein Zimmer im Keller lag direkt daneben, nur ein Stockwerk tiefer. Er legte einen Schlauch von der Garage über den Fensterschacht in mein Zimmer und dichtete alles gut ab. Was hatte er vor?
Es dauerte nicht lange, bis ich seine Gedankengänge verstand. Wenn er in der Garage den Auspuff seines Wagens mit dem Schlauch verband, konnte er die Abgase in mein Zimmer leiten. Ich sah zu, wie er Fenster und Tür meines Zimmers mit großer Sorgfalt abdichtete. Wollte mein Vater mich tatsächlich vergasen?
»Ist doch genial«, freute sich Hamid. »Da muss man erst einmal draufkommen. Der perfekte Mord. Da sind eben die giftigen Gase von der Garage irgendwie in das Zimmer gelangt.«
Er konnte sich gar nicht beruhigen in seiner Begeisterung, eine so gute Idee gehabt zu haben. Dann fiel sein Blick auf mich.
»Also du weißt Bescheid«, sagte er. »Entweder du gehorchst endlich, oder du bist tot.«
Damals sprach mein Vater so
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