Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
viele Todesdrohungen gegen mich aus, dass es auf diese eine auch nicht mehr ankam.
Ich weiß heute nicht mehr, wie es dann dazu kam. Irgendeine Kleinigkeit hatte genügt, um aus seiner Sicht das Fass zum Überlaufen zu bringen. An diesem Tag flippte er völlig aus und tobte durch das Haus
»Heute ist es so weit, Meral, du hast es nicht anders gewollt. Heute wirst du sterben. Heute wirst du vergast, du Ungeziefer!«
Er rennt in die Garage und schließt den vorbereiteten Schlauch an den Auspuff seines Wagens an. Dann stürmt er zurück ins Haus.
»Los, Meral, sofort runter in dein Zimmer!«
Wie ein Wahnsinniger stürmt er mir voraus die Treppe hinab. Prallt gegen meine Tür, die nicht aufgeht, rüttelt an der Klinke.
»Deine Tür ist abgeschlossen!«, brüllt er. »Wo ist der Schlüssel? Wo ist der Schlüssel? «
Ich habe keine Ahnung, bin genauso überrascht wie er. Meine kleine Schwester Melissa ist es, die sich ein einziges Mal in ihrem Leben in unsere Streitigkeiten einmischt: Als sie gehört hat, wie mein Vater schrie, er würde Meral jetzt vergasen, ist sie in den Keller gelaufen, hat mein Zimmer abgeschlossen und sich mitsamt dem Schlüssel versteckt, damit ich nicht umgebracht werden kann. Mein Vater muss seine Pläne ändern.
Aber ungeschoren soll ich nicht davonkommen. »Wo ist das CS -Gas?« Mein Vater hat immer eine Sprühflasche mit Tränengas im Haus. Eigentlich ist sie für Angreifer von außen gedacht. Jetzt will er sie gegen seine Tochter einsetzen. Er erklärt mir ausführlich, welch schreckliche Schläge mich jetzt erwarten werden. Und dann inszeniert er seine »Performance«, in der ich, wie immer, die Rolle des Opfers zugewiesen bekomme.
»Zieh das schwarze Kleid an!«
Dieses Kleid habe ich von Elkes Mutter bekommen, ein Original aus den Siebzigerjahren. Ich bin schließlich ein Hippiemädchen, und Ella hat sich gefreut, dass mir ihr altes Kleid gefiel. Sie hat es für mich gekürzt, dennoch ist es bodenlang. Ich laufe los und ziehe es an. Dann befiehlt mir mein Vater, mich im Wohnzimmer zwischen Fernseher und Gartentür auf ein Bein zu stellen. Ohne zu schwanken, das ist die Regel. Ich kenne das schon. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so stehen muss. Falle ich um, werde ich mit Schlägen bestraft.
Da läutet es auf einmal an der Tür. Es ist Vedat Amo, einer der Brüder meines Vaters. Vedat ist beim Bundesgrenzschutz beschäftigt, und ich weiß nicht, welche Ahnung ihn in diesem Augenblick zu uns führt. In seiner Bundesgrenzschutzuniform kommt er ins Wohnzimmer, sieht mich in meinem langen, schwarzen Kleid auf einem Bein stehen und fragt: »Was ist denn hier los?«
Mein Vater erklärt es ihm. Dass ich eigentlich sterben sollte, dass aber der Schlüssel verschwunden ist. Wo er doch alles so perfekt vorbereitet hat. Wenn man ihm so zuhört, könnte man direkt Mitleid mit ihm bekommen, er hat es wirklich schwer mit uns. Jetzt ist er gezwungen, mich auf diese Weise zu bestrafen.
Mein Vater schlägt mich, und ich verliere das Gleichgewicht, falle aus meiner Flamingo-Haltung zu Boden. Er schreit mich an, dass ich wieder aufstehen soll.
»Ich bringe dich jetzt um, Meral, jetzt ist es so weit.«
Er befiehlt mir, mich gerade hinzustellen, die Augen offenzuhalten und einzuatmen. Ich gehorche. Was bleibt mir anderes übrig? Dann sprüht er mir das Tränengas direkt ins Gesicht. Ich versuche die Augen offen zu halten, aber es gelingt mir nicht, ein Reflex zwingt mich, die Augen vor dem Gas zu schließen. Er schreit und schlägt mir links und rechts auf die Ohren, wie eine Ohrfeigenmaschine, pam-pam.
»Augen auf!!«
Ich versuche, die Augen zu öffnen. Ich kann kaum noch atmen. Das Gas brennt scharf in meiner Kehle und den Lungen. Die Augen schmerzen fürchterlich. Ich will nicht einatmen, aber ich muss doch Luft holen, und in diesem Augenblick drückt mein Vater nur ein bisschen auf den Sprühknopf der Tränengasdose und ich stürze zu Boden, krümme mich vor Schmerzen, röchelnd und würgend. Mein Vater tritt mich bis zur Wendeltreppe, die nach oben führt. An meinen Füßen trage ich Söckchen, und so rutsche ich auf dem glatten Holz der Treppe immer wieder aus. Ich kann nichts sehen. Mein Vater tritt mich schimpfend die Stufen hinauf. Ich höre meinen Onkel näherkommen.
»Bitte, Bruder«, fleht er, »was machst du da? Hör auf! Was hat sie denn jetzt schon wieder getan, ich bitte dich, Bruder …« Umsonst.
Endlich sind wir oben. Er zerrt mich ins Bad und schubst mich in die Wanne.
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