Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
schwarze Locken hat. Das wird Folgen haben! Wenn der nicht von der Schule fliegt, dann fliegt hier die ganze Stadt in die Luft.«
Wie ein Tiger in seinem Käfig lief mein Vater durch die Wohnung. Jeder Versuch, ihn zu beruhigen, prallte an ihm ab. Er griff zum Telefonhörer, und nach zehn Minuten hatte er die Redaktion der Lokalzeitung am Apparat. Der erzählte er, ein junger Rechtsradikaler habe in der Schule seine Tochter angegriffen. Damit hatte er die volle Aufmerksamkeit des Redakteurs und erzählte nun meine Geschichte auf seine Art. Danach rief er seine Brüder an, um ihnen zu sagen, dass sie am nächsten Morgen etwas für ihn erledigen müssten.
Mir wurde ganz schlecht. »Papa«, versuchte ich ihn zu beruhigen und Schlimmeres zu verhindern, »das wurde schon alles in der Schule geregelt! Der bekommt jetzt eine Klassenkonferenz, das ist heftig. Du musst da wirklich nicht mehr … Wir haben uns sowieso schon wieder vertragen …«
Paff! Mein Vater schlug mir mitten ins Gesicht. Dann packte er mich am Kinn und kam ganz nah an mein Gesicht heran.
»Vertragen?«, zischte er. »Wer ist denn das, dass du dich wieder mit ihm verträgst? Raus mit der Sprache! Wer ist er?«
»Niemand, Papa. Niemand!«
»Hast du was mit dem? Komm schon! Darum hat er dir eine gescheuert, nur deshalb nimmt er sich das raus …«
»Nein, Papa«, wimmerte ich, »natürlich nicht, Papa …« So ging es den ganzen Nachmittag.
Am nächsten Morgen weckte uns mein Vater früher als sonst. »Wir müssen noch deine Onkel abholen«, war seine Erklärung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn ich schwieg, würde gleich ein Unglück geschehen. Und wenn ich weiterhin versuchte, das Unheil, das sich auf meinen Klassenkameraden entladen würde, abzuwenden, würde ich den Zorn meines Vaters auf mich ziehen. Ohnehin glaubte er mir kein Wort.
Und so saß ich kurze Zeit später neben meinem Bruder im Fond des Autos. Wenig später stiegen meine beiden jüngeren Onkel ein. Der eine war fünfzehn, der andere siebzehn, zwei nette, eher feminin wirkende Jungs. Keiner von beiden sah so aus, als hätte er Bock auf diese Sache.
»Okay«, sagte mein Vater, »denkt daran, was ich euch gesagt habe. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Wenn ihr erwischt werdet, kann euch nichts passieren, ihr seid ja noch Kinder. Verstanden? Wir müssen als Familie zusammenhalten, und wenn ihr den Kerl nicht fertig macht, dann mache ich euch fertig. Klar? Und denkt an das, was ich euch immer sage: Wenn ihr etwas macht, dann macht es richtig. Wenn der Kerl nicht blutet, dann blutet ihr!«
Seine Brüder sahen ihn nicht an. Sie starrten vor sich hin und nickten mechanisch. Ich überlegte verzweifelt, was ich tun könnte. Da fiel es mir ein: Weder mein Vater noch meine Onkel wussten, wie Christoph aussah. Ich musste nur so tun, als käme er heute gar nicht zur Schule. Erleichtert atmete ich auf.
Mein Vater parkte vor der Schule so, dass wir die Ankunft der Schulbusse im Blick hatten. Gerade kam der erste an.
»Meral«, sagte mein Vater, »welcher ist es?«
Ich sah, wie meine Klassenkameraden, einer nach dem anderen, aus dem Bus stiegen. Dort kam Christoph. Ich sagte nichts. Doch da wurde es meinem Bruder offenbar zu bunt. Er hatte schon vorher gemault, dass er keine Lust hätte, wegen mir zu spät zum Unterricht zu kommen.
»Da ist er«, sagte Mourad.
Ich biss mir auf die Lippen.
»Welcher?«, fragte mein Vater, »der mit den langen Haaren?«
»Nein«, sagte Mourad, der noch zu jung war, um zu begreifen, was er da anrichtete. »Der dahinter.«
Meine Onkel stiegen aus. Sie trugen Springerstiefel und Lederjacken. Und ich ging ihnen nach, ja, ich dachte tatsächlich, wir würden nochmal reden und ich könnte alles erklären. Der jüngere meiner Onkel tippte Christoph auf die Schulter. Er drehte sich um, und in diesem Moment bekam er die Faust direkt ins Gesicht gerammt. Mir blieb die Luft weg. Nie werde ich diesen Ausdruck im Gesicht meines Klassenkameraden vergessen, diese Überraschung, das Entsetzen. Als sie ihn dann zu zweit schlugen und traten, war es mir, als wäre ich es, die das abbekam. Ich stürzte mich auf den Jungen, der längst auf dem Boden lag, und versuchte, ihn mit meinem Körper zu schützen: »Stopp!«, schrie ich. »Aufhören!«
Als meine Onkel sahen, dass Christoph aus mehreren Wunden blutete, ließen sie von ihm ab. Sie stiegen einfach in das Auto meines Vaters, und der gab Gas, um sie in ihre Schule zu fahren. Als ich aufsah, standen
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