Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
entführen? Wir alle kannten meinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er bei den Behörden überzeugend den besorgten Vater spielen würde. Und schließlich hatte er meinen Pass.
In den vergangenen zehn Jahren hatten sie durchaus mitbekommen, dass wir alle regelmäßig misshandelt wurden. Wie oft rief Elke, frisch verprügelt, ihre Eltern an und bat sie unter Tränen, sie »hier rauszuholen«. Wie oft fuhren Ella und Manfred von Holland, wo sie die meiste Zeit verbrachten, nach Mönchengladbach, sammelten ihre Tochter ein und nahmen sie mit. In ihrem Elternhaus bezog Elke dann ihr Kinderzimmer, das noch genauso aussah, wie sie es vor Jahren verlassen hatte, mitsamt ihrer Puppensammlung und allen Bilderbüchern. Da saß sie dann, und nach ein, zwei, spätestens drei Tagen wollte sie wieder »nach Hause«, zurück zu ihrem Mann. Es schien keinen Ausweg zu geben, weder für Elke, noch für mich. »Dann sorg halt dafür«, sagte Ella auf ihre pragmatische Art, »dass er sich nicht mehr so über dich aufregt.« Als wenn das so einfach wäre.
Und so bezog ich wieder mein Zimmer, das zu meinem Gefängnis geworden war. Da es im Keller lag, hatte es nur Fenster mit Lichtschächten, es war kaum möglich, mich bemerkbar zu machen. Eines Tages entdeckte ich Tanja, die direkt an unserem Haus vorüberging. Ich rief nach ihr, und sie hörte mich tatsächlich.
»Tanja«, sagte ich, »ich bin in meinem Zimmer eingesperrt. Bitte hilf mir! Mein Vater hält mich hier gefangen!«
Doch offenbar konnte sie sich so etwas überhaupt nicht vorstellen, sie lachte nur, als hätte ich einen besonders guten Witz gemacht, und ging weiter. Nichts geschah. Obwohl ihr Vater Polizist war, unternahm sie nichts, um mir zu helfen.
Rhea war es, die irgendwann das Jugendamt alarmierte. Dass ich krank sei und deshalb nicht zur Schule kommen könnte, hatte sie eine Weile akzeptiert. Doch warum verbot man ihr jeden Besuch bei mir? Sie kannte meinen Vater und hielt es für besser, dass jemand nachsehen kam. Und so stürmte eines Tages Elke zu mir herunter.
»Komm schnell«, sagte sie nervös. »Zieh dir rasch was über, damit du normal aussiehst. Da sind zwei Frauen vom Jugendamt gekommen. Die dürfen auf keinen Fall etwas merken.«
Sie führte mich nach oben. Da saßen zwei fremde Frauen auf dem Sofa, hielten bereits Teegläser in ihren Händen und lauschten meinem Vater, der vor ihnen auf und ab ging und seine charmanteste Seite zeigte.
»… natürlich kann Meral ab morgen wieder zur Schule gehen«, hörte ich ihn gerade sagen.
Ich setzte mich in einen der Sessel, versuchte die Situation zu erfassen. Wie weit waren die Frauen vom Jugendamt bereits von meinem Vater eingenommen? Hatte ich eine Chance, diesem Albtraum zu entkommen? Auf der Treppe sah ich kurz Mourads verängstigtes Gesicht. Auch ihn hatte ich viele Tage nicht sehen dürfen.
»Die Damen machen sich Sorgen um dich«, sagte mein Vater in amüsiertem Ton zu mir. »Aber jetzt kannst du ihnen ja selbst sagen, wie es dir geht.« Und dabei sah er mich an mit diesem Blick, den ich nur zu gut kannte. Wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen sagst, bist du morgen in der Türkei. Oder tot. Such es dir aus. Es wird dir sowieso keiner glauben.
Ich wusste, dass er recht hatte. Und selbst wenn … selbst wenn mir diese Frauen Glauben schenkten, würden sie mich auf der Stelle mitnehmen und vor meinem Vater beschützen? Keiner konnte mich vor meinem Vater schützen, zu diesem Schluss war ich schon lange gekommen. Weder Angelika, noch der Polizist von gegenüber, nicht einmal mein Opa Manfred.
»Also«, sagte mein Vater und lächelte die beiden Frauen gewinnend an. »Ich bin dann mal kurz weg.« Und zu meiner großen Überraschung verließ er tatsächlich das Haus.
»Du gehst schon seit drei Wochen nicht mehr zur Schule, Meral«, sagte eine der beiden Frauen zu mir. »Wieso nicht?«
Mein Vater war weggegangen. Aber war er das nicht an jenem Abend auch, als ich gegen seinen Willen Tanjas Party besucht hatte? Stellte er mich heute möglicherweise genauso auf die Probe wie damals, und wenn ich etwas verraten oder gar mit diesen Frauen das Haus verlassen sollte, würde das nicht wieder furchtbare Folgen für mich und alle anderen haben? Lauerte er vor dem Haus mit seiner Pistole und wartete nur darauf, dass ich herauskam? Das, was hinter mir lag, hatte mich dermaßen sensibilisiert, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sich mir hier ein echter Ausweg bot.
»Ich hab mich am Bein verletzt«,
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