Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Freundinnen eine Party feiern oder wie alle anderen an der Klassenfahrt teilnehmen wollte. Vielleicht lag es daran, dass er selbst offenbar ständig an Sex dachte, sei es bei meinen kleinen Freundinnen, als ich noch zehn, elf Jahre alt war, sei es bei den Nachbarinnen und Freundinnen seiner Frau bis hin zu jeder einzelnen Frau, die in seinen Bus einstieg. Er dachte an Sex und musste mit ansehen, wie seine Tochter Meral, der er noch vor Kurzem die Windeln gewechselt hatte, ihre Periode bekam, zu einem Teenager wurde mit allem, was dazugehört: den kleinen Geheimnissen, dem eigenen Universum, das man sich in diesem Alter schafft und in dem die Eltern nichts verloren haben. Er musste mit ansehen, wie mir kleine feste Brüste wuchsen und die Jungs hinter mir hersahen. Er musste ertragen, dass ich eine eigene Meinung entwickelte und ihn zu durchschauen begann, mehr als ihm lieb sein konnte. Und diese Energie einer Vierzehnjährigen, diese Kraft, die sogar in der Lage war, ihn von sich zu stoßen, die konnte er nicht akzeptieren, die musste er bekämpfen, ja vernichten. Er liebte mich vielleicht, möglicherweise auf verwirrende, mehrfache Weise, und auch das lastete er mir an. So wäre es also das Einfachste gewesen, mich zurück ins Dorf meiner Mutter zu schicken und mich zu verheiraten: Aus den Augen, aus dem Sinn. Aus dem Weg. Aus dem Herzen. Sollte sich doch ein anderer mit mir herumschlagen. Aber zuzuschauen, wie ich mich zur Frau entwickle, einen interessanten Beruf erlerne, Partner habe und mein eigenes Leben führe – das konnte er nicht ertragen. Er wusste, er konnte mich nicht mein Leben lang beherrschen, also war der einzige Ausweg meine Vernichtung. Denn all das, was mir offen stand, wenn ich die Schule gut abschloss, hatte er sich selbst nur zu sehr gewünscht. Auch wenn er sich in Kreisen bewegte, in denen er mit Akademikern wie Lehrern und Sozialpädagogen usw. zu tun hatte, so saß er selbst doch Tag für Tag hinter dem Lenkrad eines Linienbusses in Düsseldorf. Er gehörte nicht dazu, und wenn er noch so viele Transparente bei Demonstrationen für den »richtigen« Zweck hochhielt, auch wenn er sich noch so sehr bei den Grünen engagierte, Hamid Al-Mer blieb in seinem Herzen der dreckige kleine Junge, der auf einer staubigen Landstraße Anatoliens eine gefundene Melone mit seinem Bruder teilte.
Vielleicht war das der Grund für das Monster in ihm, das er durch Drogen und Alkohol nährte und wachsen ließ: Sein täglicher Spagat zwischen seiner Herkunft und dem Erbe an Tradition auf der einen Seite und auf der anderen Seite seinem Wunsch, ein integrierter türkischstämmiger Deutscher zu sein, den anderen, »richtigen« Deutschen in seiner Umgebung ebenbürtig.
Ich glaube, dass ich das alles schon damals im Ansatz ahnte, als mein Vater versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Denn ich war diejenige, die ihn wohl am besten kannte und durchschaute. Und doch hätte ich es damals natürlich keinesfalls so formulieren können. Mein Überlebensinstinkt sagte mir, dass wir weg mussten, so schnell wie möglich. Mourad wurde immer stiller und unglücklicher, sogar Meli, die nie geschlagen wurde, entwickelte Tics, blies die Backen auf und haute sich selbst gegen die Wangen, dass die Luft aus ihrem geschlossenen Mund herausknallte, wieder und wieder. Außerdem hatte sie zu klauen begonnen. Meli wurde mehr und mehr zur Kleptomanin, und in schöner Regelmäßigkeit musste ich tütenweise Spielzeug und andere Dinge zurückbringen, die sie bei ihren Spielkameradinnen mitgehen ließ. Das konnte so nicht weitergehen, fand ich.
Mit Leyla allerdings war es eine andere Sache: Zwar hatten wir festgestellt, dass wir im selben Boot saßen, aber sie erlag immer wieder den Beteuerungen meines Vaters, er werde sie ganz bestimmt bald zu seiner Frau machen – und dann wechselte sie wieder die Seiten.
Zur Schule ging ich nach diesem Vorfall nur noch ein- oder zweimal. Bei einer dieser Gelegenheiten versuchte ich, mit einem Lehrer zu sprechen, der damals stellvertretender Direktor an unserer Schule war, denn ich wusste, dass ich Hilfe brauchte. Ich werde nie vergessen, wie ich neben diesem Lehrer im Flur herging, ein schreckliches blaues Auge im Gesicht, und ihn um ein Gespräch bat.
»Was gibt es denn?«, wollte er kurz angebunden wissen.
Seit der Sache mit Christoph und meinen Onkeln hatte ich keinen guten Ruf mehr in der Schule. Solange ich noch den Unterricht besuchte, war ich oft frech und aufsässig gewesen, hatte immer das
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