Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
ich ihr, »es ist so schlimm. Vielleicht noch viel schlimmer.«
Und ich flehe sie an, gleich heute etwas zu unternehmen.
»Bitte, liebe Mama«, bettle ich, »bitte lass uns verschwinden. Jetzt gleich. Hier ist der Autoschlüssel. Lass uns die anderen zusammenrufen, ein paar Sachen packen und abhauen. Ich habe solche Angst …«
Doch sie schüttelt den Kopf. Ich hänge mich an ihren Arm, flehe, bitte, doch vergeblich. Sie ist blind und taub, will nicht sehen, wie es um uns steht. Sie macht sich los und verlässt das Zimmer.
Lichtblicke in diesem fürchterlichen Herbst und Winter waren die Wochenenden, zu denen mich Manfred und Ella nach Holland einluden. Manchmal durfte ich Rhea oder eine andere Freundin mitbringen, und so wurden diese Tage meine Atempausen. Kleine Dinge wurden für mich zu Kostbarkeiten, wenn wir zum Beispiel im »Pfannkuchenhaus« aßen, im Wald spazieren oder zum Schwimmen gingen oder abends vor dem Kaminfeuer saßen. Dann konnte sich nicht nur mein Körper ausruhen und regenerieren, sondern auch meine Nerven, die bis zum Zerreißen gespannt waren.
Am 6. Dezember erklärte mein Vater, dass Nikolaus dieses Jahr ausfallen würde. Wir seien schließlich Muslime, und darum würde von nun auch Weihnachten nicht mehr gefeiert. Was dies für einen Schlag für uns Kinder, vor allem für meine kleineren Geschwister bedeutete, kann ich gar nicht beschreiben. Zu Silvester sollte es dafür eine große Familienfeier geben, zu der mein Vater alle seine Brüder und Schwestern samt Familien einlud.
Am Abend vor Silvester war ich in einer derart verzweifelten Stimmung, dass ich beschloss, mir das Leben zu nehmen. Es war mein dritter Selbstmordversuch, und dieses Mal wollte ich unbedingt alles richtig machen. Ich besorgte mir ein großes Buschmesser, das mein Vater einmal auf einem russischen Flohmarkt gekauft hatte, und prüfte, wo denn eigentlich der Puls verläuft. Dann sägte ich eine Ewigkeit an meinem Handgelenk herum, doch das Messer war stumpf und schartig, und ich hatte keine Ahnung, wie man sich die Pulsadern richtig aufschneidet. So kam nicht mehr dabei heraus als eine schartige, leicht blutende Wunde.
Am nächsten Morgen hatte sie sich entzündet. Zum Sterben reichte es nicht, aber so konnte ich mein Handgelenk auch nicht lassen. Ich versuchte, mir einen Verband zu machen, und das bemerkte Elke, die sich wunderte, warum ich ihr bei den umfangreichen Vorbereitungen für das Fest am Abend nicht zur Hand ging. Sie entdeckte die Wunde und erschrak, war aber auch gleichzeitig genervt, dass es jetzt wieder »Scherereien« wegen mir gab, wo doch abends so viele Gäste kamen.
Sie erzählte alles meinem Vater, der sehr wütend wurde und mich schlug. »So einfach kommst du nicht davon«, schrie er mich an. »Dein Tod kommt noch früh genug, und wann das sein wird, das entscheide ich!«
Er fuhr mit mir ins Krankenhaus. Dort erzählte er, beim Spülen sei ein Glas geplatzt, und dabei hätte ich mich mit einer Scherbe verletzt.
»Und das ist wirklich beim Spülen passiert?«, fragte mich ein gestresster Arzt, während er mich verband.
»Ja.«
»Ausgerechnet an der Stelle?«
»Jaaa!«, fauchte ich ihn an. »Das hat mein Vater doch schon alles erklärt!«
Wie in der Schule war ich aggressiv und patzig, stets auf Abwehr eingestellt, denn wieder hatte ich schreckliche Angst vor der Rache meines Vaters, sollte ich etwas Falsches sagen. Und doch wünschte ich mir insgeheim, dass jemand in der Lage wäre, dahinterzublicken, jemand, der gegen meinen Widerstand herausfinden könnte, was eigentlich mit mir los war. Im Nachhinein wundere ich mich wirklich, dass keiner nachhakte und offen die Frage stellte, warum sich eine Vierzehnjährige beim Spülen ausgerechnet dort, wo die Pulsadern verlaufen, eine solche schartige Wunde zugezogen hatte. Ich konnte nicht anders, als trotzig reagieren, und doch war es ein Hilfeschrei, ein Zeichen, das gedeutet werden wollte. Ich wünschte mir so sehr, dass irgendjemand käme, der den Panzer durchbrach, die Fassade durchschaute, die wir alle aufgebaut hatten, um diese kranke Familie nach außen abzuschirmen. Aber statt richtig hinzusehen, meine Arme anzuschauen, wo sich Schnitt an Schnitt reihte, statt professionell ein paar Fragen zu stellen, fing nun auch dieser Arzt an, mit mir zu streiten. Genau wie meine Lehrer, stieg auch dieser Arzt auf meine reflexhaft provozierenden und pubertätszickigen Antworten ein und war am Ende total genervt.
Auf dem Heimweg musste ich mir den
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