Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
schreit Yildiz halla. »Ein Wunder!«
Und ich frage mich, warum Gott ausgerechnet ein solches Wunder geschehen lässt, wenn er sich ansonsten damit so zurückhält.
Nach diesem albtraumartigen, völlig durchgeknallten Silvesterfest stand für mich fest, dass etwas geschehen musste. Mein Vater hatte zwei Mal auf mich geschossen, und nur durch Zufall lebte ich noch. Wenn Elke nicht willens oder fähig war zu handeln, dann musste ich es eben tun.
Zuerst musste Leyla in Sicherheit gebracht werden. Dazu brauchten wir Hilfe von außen.
Aus der Koranschule, zu der ich schon lange nicht mehr ging, hatte ich einmal Hefte mitgenommen. Darin fanden wir Kontaktanzeigen. Ich stellte mir vor, dass ein arabisch- oder türkischstämmiger Arzt oder Rechtsanwalt Leyla helfen könnte. Ich suchte verzweifelt nach jemandem, dem sie sich anvertrauen konnte. Und nach einem Arzt, der ihr Jungfernhäutchen reparieren könnte.
Zunächst dachte ich also an Leyla, nicht an uns. Sie lebte nun fast zwei Jahre mit uns, und ich fand, dass sie zu unserer Schicksalsgemeinschaft gehörte.
In diesen Heften der islamischen Gemeinde fand ich einige Anzeigen von Beratungsstellen, von denen ich hoffte, dass Leyla dort Hilfe bekommen könnte. Und so gab ich Leyla diese Adressen, und sie steckte sie in die Tasche ihrer Jeans. Wie wir das anstellen sollten, mit diesen Stellen in Kontakt zu treten, das wussten wir auch nicht so genau, denn wir durften ja das Haus nicht verlassen. Aber irgendein Weg würde sich schon finden, dachten wir. Damals klammerten wir uns an jeden Strohhalm, an jede Idee, und jetzt lagen unsere Hoffnungen in diesen Telefonnummern.
Doch dann kommt alles ganz anders.
Es ist Nacht, Elke arbeitet in der Spätschicht. Ich bin in meinem Zimmer und schlafe. Da kommen meine Geschwister zu mir hereingestürzt.
»Meral, schnell«, flüstert Mourad in großer Panik. »Papa bringt Leyla um!«
Ich lausche. Alles ist dunkel, doch von oben höre ich ein entsetzliches Wimmern.
»Sie sind im Badezimmer«, wispert Meli mit weit aufgerissenen Augen. »Da ist ganz viel Blut. Und Leyla … mittendrin.«
»Ihr bleibt erst mal hier«, sage ich zu meinen Geschwistern und schleiche so leise ich nur kann die Treppen hinauf, gerade so weit, dass ich etwas sehen kann. Die Tür zum Badezimmer steht einen Spalt weit auf. Ich beobachte, wie mein Vater mit dem Kolben eines Schnellfeuergewehrs auf Leyla am Boden einschlägt. Sie hat sich wie ein Embryo zusammengerollt und winselt. Überall ist Blut. Leise ziehe ich mich zurück bis hinunter in den Eingangsbereich. Überlege fieberhaft, was zu tun ist.
»Ich bringe euch alle um!«, schreit mein Vater oben im Bad. »Alle!«
Da geht die Haustür einen Spalt weit auf; es ist Elke, die von der Nachtschicht nach Hause kommt. Ich lege den Finger auf den Mund, mache ihr ein Zeichen, wieder hinauszugehen. Ich folge ihr und erkläre ihr flüsternd, dass sie jetzt auf gar keinen Fall in die Wohnung kommen kann.
»Es geht um Leben und Tod«, wispere ich. »Du musst sofort Hilfe holen. Er will uns alle umbringen!«
Ich zittere wie ein kleines, nasses Tier, wie Espenlaub im Wind, so groß ist meine Angst.
Elke versteht sofort, springt ins Auto und fährt davon. Ich habe gerade noch Zeit, in die Wohnung zu schlüpfen und die Tür zu schließen, da kommt mein Vater auch schon die Treppe heruntergestürmt, die Waffe im Anschlag.
»Wo ist sie?«, brüllt er, völlig außer sich. »Wo ist die Schlampe, ich bring sie um!«
»Weiß nicht«, stammle ich, »arbeiten.«
Aus seinem wütenden Geschrei entnehme ich, dass er die Annoncen in Leylas Jeans gefunden haben muss. Und dass er denkt, Elke habe sie ihr zugesteckt. Ich habe furchtbare Angst, er könnte darauf kommen, dass ich es war. Aber das tut er nicht.
Nach einer Weile kehrt Elke zurück – und ich glaube zu träumen: Statt der Polizei bringt sie eine betagte Freundin samt Lebensgefährten als Verstärkung mit. Die wollen erst mal mit Hamid reden. Aber Hamid ist nicht nach reden zumute, ihm ist danach, herumzuschreien und Elke zu schlagen. Ihre Freunde versuchen, ihn davon abzuhalten. In dem heillosen Gemenge kreischt Elke immer wieder: »Ich will nur meine Tochter!«, und packt Meli am Arm.
Wie bitte? , denke ich. Und was ist mit uns?
Elke versucht in dem Durcheinander, Meli anzuziehen, doch Hamid zerrt an ihr herum, und auf einmal hat sie oben herum nichts mehr an. Irgendwie gelingt es Elkes Freunden, meinen Vater zurückzuhalten, der rennt die Treppe nach
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