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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
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oben, und Elke stürmt mit Meli an der Hand aus dem Haus. Mourad und ich in Schlafanzug und Nachthemd hinterher.
    »Bitte, bitte«, flehe ich, »Mama, nimm uns mit!«
    Da springt mein Vater aus dem Haus, und mit ein paar Sätzen ist er auf Elkes Autodach. Wie King Kong schwingt er einen Baseballschläger, den er sich aus Mourads Zimmer geholt hat, und zertrümmert die Windschutzscheibe. Elke schreit immer wieder schrill: »Ich will nur meine Tochter, sonst nichts!«, doch mein Vater macht weiter, drischt mit seinem Schläger wie ein Irrer auf das Auto ein.
    »Mama, Mama«, dränge ich und versuche nach ihrer Hand zu greifen, »lass uns nicht alleine hier! Nimm uns mit …«, doch sie scheint mich nicht zu hören. Wir stehen dicht aneinandergedrängt, beobachten voller Panik, wie dieser Wahnsinnige systematisch den Wagen zu Schrott schlägt. Und da ist er wieder, dieser Geruch von Angst, den ich so gut kenne, aber noch nie so deutlich wahrgenommen habe wie heute: stinkende, bittere, nackte Angst. Mein Nachthemd ist pitschnass von diesem kalten Angstschweiß.
    »Ich hole euch später«, sagt Elke, und Todesangst greift nach mir, dass sie mich fast erstickt. Sie will uns tatsächlich alleine lassen mit diesem … ja, in diesem Augenblick ist mein Vater für mich der leibhaftige Tod.
    Sirenen nähern sich. Polizeiwagen fahren vor. Die Beamten überwältigen Hamid Al-Mer, nehmen ihm den Schläger ab. Im Haus finden sie Leyla in ihrem Blut. Sie hat eine schwere Kopfverletzung, neben vielen anderen Wunden. Mourad und ich halten uns an der Hand, stumm und mit aufgerissenen Augen verfolgen wir, was um uns herum geschieht. Da sind noch mehr Sirenen, ein Krankenwagen kommt. Sirenen und pulsierende Lichter, das Schreien meines Vaters, unwirkliche Stimmen aus den Funkgeräten der Beamten. Männer in weißen Kitteln tragen Leyla aus dem Haus, sie wird notversorgt und abtransportiert. Drei Männer sind nötig, um meinen tobenden Vater zu bändigen. Schließlich verschwindet er in einem anderen Wagen und fährt davon. Er wird in die psychiatrische Notaufnahme eingeliefert, höre ich. Da ist ein Polizist, der sich zu uns gestellt hat, wie ein Baum steht er da, fest und Sicherheit verbreitend. So als wolle er sagen: »Es ist vorbei. Euch wird nichts geschehen. So etwas wird nie wieder passieren.«
    Irgendwann sind sie alle fort. Die Sanitäter, die Polizisten, die Leute vom psychiatrischen Notdienst. Leyla. Mein Vater. Es wird wieder still. Auch die Nachbarn haben sich wieder in die Betten gelegt.
    Wir gehen zurück ins Haus. Mourad ist auf einmal schrecklich müde, er schläft einfach ein, er kann nicht anders.
    Ich sehe zu, wie Elke eine Tasche packt.
    »Mama, gehst du weg?«
    Meine Stimme klingt fremd, wie von einem schwachen kleinen Tier. Sie gibt mir keine Antwort. Fest ergreift ihre Hand die von unserer kleinen Schwester. Melissa ist meine eigene Tochter, darum habe ich sie lieber als euch, klingt es mir im Ohr. Ich habe ihr heute Abend das Leben gerettet, und jetzt lässt sie uns im Stich.
    »Sollen wir nicht lieber zusammenbleiben?«, versuche ich es noch einmal. »Können wir nicht mit dir kommen?«
    Doch Elke ist mit ihrer Tochter bereits an der Tür.
    »Morgen«, sagt sie. »Morgen komme ich euch holen.«
    Und dann ist sie weg.
    In dieser Nacht finde ich keine Ruhe. Mourad, den offenbar die Schlafkrankheit gepackt hat, lässt sich von mir willenlos in mein Zimmer führen. Dort schläft er in meinen Armen weiter, fest an mich gekuschelt, während ich wach liege und beim kleinsten Geräusch in Panik verfalle. Was, wenn sie ihn nicht dortbehalten, wo sie ihn hingebracht haben? Was, wenn er plötzlich zur Tür hereinkommt, das Gewehr in der Hand oder den Baseballschläger? Ach, die haben sie ihm ja abgenommen. Aber er besitzt so viele andere fürchterliche Waffen … Mourad schläft wie ein Toter, und ich liege mit laut pochendem Herzen neben ihm. Bis mich irgendwann doch der Schlaf übermannt.
    Als wir aufwachen, ist es heller Tag. Es braucht einen Moment, bis mir alles wieder einfällt. Dann sitze ich senkrecht im Bett. Wie spät ist es schon? , fährt es mir durch den Kopf. Mourad brummt nur und dreht sich um, schläft weiter. Vorsichtig verlasse ich mein Zimmer, gehe auf Zehenspitzen durchs Haus. Alles scheint mir fremd, überall sehe ich die Spuren der jüngsten Zerstörungen. Es kommt mir so vor, als bewegte ich mich in einem Film, so unwirklich ist alles, so still, dass ich hören kann, wie mein eigenes Blut in den Ohren

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