Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
letzte Wort und wusste nur zu gut, wie man die Knöpfe der Lehrer drücken musste. Heute ist mir klar, dass es für die Lehrer nicht einfach war, hinter meine Fassade zu blicken, und doch frage ich mich, warum denn niemand versucht hatte, meiner Aufsässigkeit auf den Grund zu gehen. Bei den regulären Elternsprechtagen hieß es: »Die Meral, die verhält sich so ätzend!«
Dann spielte mein Vater den Betroffenen, versprach, mit mir zu reden, was damit endete, dass ich Prügel bekam und meine Auffälligkeiten noch größer wurden.
»Was ist denn«, fragte mich also unser stellvertretender Direktor.
Ich erzählte ihm, dass ich zu Hause geschlagen würde und nicht mehr wüsste, was ich tun sollte. Er hörte sich das alles an. Dann waren wir vor dem Lehrerzimmer angekommen.
»Das wird schon wieder«, sagte der Lehrer, tätschelte mir den Arm und verschwand hinter der Tür.
Das war mein letzter Schultag.
Mein unangekündigter Schulabgang fiel zunächst niemandem auf, denn erst kamen die Herbstferien, und danach sollten wir alle ein Berufspraktikum machen. Ich hatte lange im Voraus bereits einen Praktikumsplatz für mich gefunden. Es war mein Traum, Journalistin zu werden, und deshalb hatte ich mich bemüht, ein Praktikum in der Redaktion eines Radiosenders zu ergattern. Als mein Vater davon erfuhr, wollte er wissen, was ich da tun sollte.
»Was machen solche Radiojournalisten denn so?«, fragte er harmlos.
Und ich erzählte ihm voller Begeisterung, dass dies mein Traumberuf sei, weil man da stets neue Themen recherchieren muss, mitunter auch in fremde Länder reisen …
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, unterbrach mich mein Vater. »Dieses Praktikum trittst du nicht an.« Und nichts konnte ihn mehr umstimmen.
Dafür organisierte er mir eine andere Praktikumsstelle, und zwar bei einem Zahnarzt. Von diesem Bekannten erhielt er sogar die Unterschrift auf der Bestätigung, ohne dass ich überhaupt je in diese Zahnarztpraxis ging. Stattdessen saß ich, wie Leyla, zu Hause herum und langweilte mich zu Tode.
Irgendwann fing ich damit an, mich selbst zu verletzen. Mit Messern und ausgebrochenen Rasierklingen, mit allen möglichen scharfen Gegenständen fügte ich mir Schnitte an den Armen zu, dort, wo man es nicht sehen konnte, wenn ich lange Ärmel trug. Damit habe ich mich während dieser nicht enden wollenden Tage im Haus stundenlang beschäftigt: mich zu schneiden, den Arm abzubinden, die Wunde zu pflegen. Ich wollte natürlich nicht, dass jemand sah, was ich da tat, und so sorgte ich dafür, dass ich die Schnitte verbergen konnte, und das war einfach, trug man damals doch überlange Schlabberpullis und -shirts. Dennoch reizte ich meine Möglichkeiten bis an die Grenzen aus, ritzte mich so weit, wie der Pulli eben noch reichte, und wenn man genau hingeschaut hätte, hätte man es auch bemerkt. Doch das tat keiner.
Meine Freundschaft zu Rhea war mein einziger Trost. Sie hielt zu mir, und einmal sprachen sie und Simone mit Elke, versuchten sie davon zu überzeugen, dass sie etwas unternehmen müsse. Sie fingen sie auf einer Brücke ab, als Elke gerade auf dem Weg war, Melissa von der Schule abzuholen. Sie stellten sich ihr in den Weg.
»Sie müssen da weg«, sagte Rhea zu ihr. »Es gibt doch Möglichkeiten. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie wollen.«
Doch Elke lehnte dankend ab. Auch mir gelang es nicht, mit ihr in Ruhe zu reden. Wir waren selten allein miteinander, und wenn, dann war sie fahrig und unaufmerksam. Was ich sagte, drang einfach nicht zu ihr durch. Auch ihr musste klar geworden sein, dass ihr Mann auf einen Abgrund zusteuerte, dass er immer mehr Alkohol trank und dann nicht mehr wirklich er selbst war. Dennoch hielt sie unbeirrbar zu ihm, glaubte seinen Versprechungen und fürchtete sich offensichtlich vor den Folgen einer Trennung. Denn mein Vater hatte über all die Jahre keinen Zweifel daran gelassen, dass in unserer Familie keine Entscheidung ohne ihn getroffen wurde und dass er Zuwiderhandlungen bestrafen würde, wenn es sein musste mit dem Tod.
Mein Vater muss gespürt haben, dass ihm die Situation immer mehr entglitt. Er ahnte, dass wir alle nur darauf lauerten, ihn irgendwie loszuwerden. Einmal ging es ihm nicht gut, und er legte sich ins Bett.
»Das ist die Chance«, dachte ich, und gemeinsam mit Leyla sah ich im Medikamentenschrank nach, was wir im Haus hatten. Mein Vater, wie alle in seiner Familie, betrachtete es immer als einen beruhigenden Luxus, ausreichend Tabletten für jede
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