Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Hohn und die Boshaftigkeit meines Vaters gefallen lassen.
»So? Du willst also sterben? Na, dann sag doch Bescheid! Das können wir einfacher regeln. Du stirbst, wenn ich das will!«
Ich probierte es trotzdem immer wieder. Räumte den Medikamentenschrank leer und nahm alles auf einmal ein. Davon wurde mir nur schlecht, ich musste mich übergeben und war zwei Tage krank. Doch sterben, so schien es, durfte ich gegen den Willen meines Vaters tatsächlich nicht.
15
Eine Familie fliegt in die Luft
A m Abend kommen also unsere türkischen Verwandten. Ich helfe Elke, all das Essen aufzutragen, das mein Vater bei einer solchen Gelegenheit erwartet. Mein Vater trinkt wieder einmal zu viel und hört nicht auf, mich bloßzustellen.
»Stellt euch nur mal vor, was die Meral sich wieder geleistet hat«, erzählt er. »Will sich doch tatsächlich das Leben nehmen. Aber da hat sie sich geschnitten, was, Meral?«
Und dann lacht er über seinen eigenen Wortwitz und will sich gar nicht mehr beruhigen. Er liebt solche Wortspiele; wenn er mich auf den Mund schlägt und die Lippen durch die Zahnspange anschwellen, dann freut er sich daran, »dass ich mal wieder eine dicke Lippe riskiert habe«. Und jetzt habe ich mich eben »geschnitten«, wenn ich glaubte, ich könne selbst über Tod und Leben bestimmen.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten bin ich Küchenhilfe und Serviermädchen in einem, laufe zwischen der Küche und dem Esszimmer hin und her, leere Aschenbecher und koche Tee. Es läuft laute Musik, und auf einmal hat mein Vater seine Pistole in der Hand und fängt an loszuballern. Er zielt auf mich, ich renne um mein Leben und werfe mich zu Boden. Die Kugeln schlagen in unserer Wohnzimmerwand ein. Auch meine Onkel und Tanten suchen kreischend Schutz, krabbeln auf dem Boden herum und bitten ihn, er möge Vernunft annehmen.
»Bitte, Bruder, wir flehen dich an …«, und alle winseln und versuchen, sich hinter Stühlen und Sesseln zu verstecken, doch mein Vater lacht nur und schießt weiter. Wumm! Jetzt hat er die Lautsprecherbox erwischt, vor der ich kauere. Wumm! Ein zweites Mal, die Musik läuft nur noch Mono. Ich krieche unter den Tisch, doch jetzt hat er mich entdeckt, kommt auf mich zu und richtet die Pistole direkt auf mich, sodass ich in den Lauf der Waffe sehen kann.
»Nun ist es gleich vorbei«, denke ich, doch statt mich zu töten, hält mir mein Vater wieder einmal eine endlose Standpauke, die im Grunde nur auf eines hinausläuft: Er wird entscheiden, wann ich sterbe. Er allein.
Dann legt er die Waffe weg, und das Fest geht weiter. Meine Tanten und Onkel erheben sich vom Boden und streichen ihre Kleider glatt. Und nun beginnt ein heilloses Durcheinander aus Lachen, Weinen, Schreien, Sich-in-die-Arme-Fallen und Küssen, von An-der-Schulter-Packen und Schütteln, von Ohrfeigen und erneuten Umarmungen, von Teekochen und –servieren, Aschenbecherleeren, Essen-Auftragen, Teller-Abtragen, lauter Musik, Alkohol und noch mehr Alkohol.
Und dann wird es Mitternacht. Mein Bruder und ich stehen oben am Kinderzimmerfenster und werfen Knallfrösche auf die doofe Leyla unten im Garten, die sich mal wieder mit meinem Vater versöhnt hat und unbelehrbar davon träumt, seine Frau zu werden, die dumme Gans. Ich kenne das schon, das wird ewig so hin und her gehen mit ihr, morgen wird sie wieder zu mir kommen und sich bei mir ausweinen …
Lautes Geschrei lockt uns wieder nach unten. Ich sehe, wie mein Vater einen mittelgroßen, roten Chinesischen Böller in die Hand nimmt. Er betrachtet ihn kurz, dann zündet er ihn an und steckt ihn sich zwischen die Zähne.
Ich halte die Luft an. Kann kaum glauben, was ich sehe. Die Lunte kriecht weiter, und dann ist da nur noch ein ohrenbetäubender Knall und der Böller explodiert zwischen seinen Zähnen.
»Das ist das Ende«, denke ich. »Aus und vorbei. Jetzt hat er sich selbst in die Luft gesprengt.«
Doch das ist ein Irrtum. Mein Vater hat offenbar die sieben Leben einer Katze. Während sich der Qualm lichtet, stellen wir fassungslos fest: Er lebt, hat sich nicht einmal verletzt, sondern lacht mit schwarz verfärbten Zähnen, lacht und will überhaupt nicht mehr damit aufhören.
Ich habe Mühe, meine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass er so glimpflich davonkommt. Stattdessen gebe ich mir alle Mühe, die Betroffene zu spielen und ihm zu helfen, sich von all dem Ruß wieder zu säubern. Es ist nicht zu glauben: Sogar seine Zähne werden wieder weiß.
»Das ist ein Wunder, Bruder«,
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