Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
anderen denken, du und ich, Meral, wir gehören doch zusammen …«
»Nein, Papa. Ich kann doch nicht erst so einen Terz machen und dann zu dir zurückkehren. Du musst alleine zurechtkommen.«
»Wo wohnst du?« Schon war in seiner Stimme wieder ein anderer Unterton, eine minimale Färbung in Richtung Drohung. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Sag ich nicht.« Und ich legte schnell den Hörer auf.
Für meinen Bruder war das Erlebte eindeutig zu viel gewesen. Mit ihm war nichts anzufangen, er hing herum, schlief, spielte Gameboy, schlief, aß wenig, spielte wieder – das war sein Weg, das Erlebte zu verdrängen. Ich hatte also nicht nur für mich selbst zu sorgen, sondern auch noch für meinen zwölfjährigen Bruder.
»Der Verband, bei dem ich arbeite, sucht eine Wohnung für mich«, berichtete mir Elke am Telefon. »Sobald ich die habe, könnt ihr mit mir dort einziehen.«
Das war die Perspektive, an die wir uns klammerten.
Bis es so weit war, wollte ich gerne bei meinen Freundinnen bleiben. Doch eines Tages standen zwei Mitarbeiter vom Jugendamt vor der Tür und sammelten uns ein. Sie brachten Mourad und mich ins Evangelische Kinderheim Büttgen. Er kam in die Abteilung für Jungen seines Alters, ich zu den Mädchen. Natürlich fand ich das furchtbar.
Wer hatte das Jugendamt verständigt? Wahrscheinlich mein Vater.
Mourad blühte in Büttgen richtig auf. Er verstand sich sofort gut mit seinem Zimmergenossen, verliebte sich und hatte nach kurzer Zeit einen Kreis von Freunden. Auch ich freundete mich mit dem Mädchen an, mit dem ich das Zimmer teilte. Doch dieses Leben – gemeinsames Aufstehen, gemeinsames Frühstück – passte so gar nicht zu mir. Ich hatte mir doch nicht den Weg in die Freiheit erkämpft, damit ich jetzt in einem Kinderheim eingesperrt war! Wenn also nicht gerade eine Besprechung mit den Mitarbeitern über unsere Zukunft anstand, ging ich tagsüber wieder zu Rhea. Ein paarmal blieb ich auch über Nacht, bis man mich wieder abholen kam. Ich sei ausgerissen, hieß es dann. Rheas Mutter erklärte mir, dass ich das nicht so machen konnte. Ich sei immer willkommen bei ihnen, aber einfach aus dem Heim abzuhauen – das käme nicht in Frage.
Es gab durchaus Gründe, warum ich nicht im Heim bleiben wollte. Denn schon wieder hatte mein Vater herausgefunden, wo wir waren, und lauerte mir auf dem Schulweg auf. Ich hatte fürchterliche Angst vor ihm und sehnte mich nach Schutz. Eines Tages kam ich auf die Idee, zur Polizei zu gehen und mich zu erkundigen, was man da machen könnte. Und so erhielt mein Vater eine richterliche Verfügung, dass er sich mir nicht mehr als auf fünfhundert Meter nähern durfte. Auch wenn mir manche damals dazu rieten, anzeigen wollte ich ihn noch nicht. Ich konnte mir das nicht vorstellen, wusste nicht, welche Rechte ich hatte. Er sollte mich einfach in Ruhe lassen, das war es, was ich mir wünschte. Doch natürlich hielt mein Vater sich nicht an die Bannmeile.
Schließlich hatte man für Elke eine Wohnung in Viersen gefunden. »Jetzt beginnt etwas Neues«, sagte sie, »von nun an werden wir in Frieden leben. Hamid kennt die Adresse nicht.«
Kaum waren wir richtig eingezogen, klingelte es auch schon Sturm. Es war mein Vater. Er hatte einen seiner Kumpels gebeten, hinter dem Umzugswagen herzufahren, mit dem einige Möbel aus dem Reihenhaus in die neue Wohnung gebracht worden waren. So einfach war das, und schon kannte er unseren neuen Aufenthaltsort. Er setzte Elke und uns alle einem ständigen Terror aus, klingelte an der Tür, rief an, stand stundenlang draußen vor dem Haus. Mein Vater war zum Stalker geworden, und wir wussten nicht, was wir tun sollten.
Wir gingen wieder zur Schule – zu einer neuen in Viersen – und versuchten, ein normales Leben zu führen. Oft passte er mich auf dem Weg nach Hause ab, versuchte, mich zurückzugewinnen, setzte seinen ganzen Charme ein, und wenn das nichts fruchtete, ging es weiter mit der weinerlichen Tour.
Es waren sehr widersprüchliche Gefühle, die mich in dem Jahr nach dem großen Knall durcheinanderwirbelten. Da war der verzweifelte Wunsch, meinen Vater endlich loszuwerden. Und doch liebte ich ihn immer noch, auch wenn ich mir das damals nicht eingestehen konnte. Ich war mein Leben lang so auf ihn fixiert gewesen, dass seine Abwesenheit regelrechte Entzugserscheinungen in mir auslöste, auch wenn ich noch so sehr von der »Droge Vater« loskommen wollte. Ja, auf eine Weise hätte es mir sogar gut gefallen, ihn hin und wieder
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