Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
zu besuchen, ihm den Haushalt zu machen, mit ihm ein Glas Tee zu trinken und dann wieder zu verschwinden. Aber ich wusste nur zu gut, dass das nicht möglich war. Mit ihm konnte man entweder ganz oder gar nicht zusammenleben. Wobei das »gar nicht« noch nicht einmal sicher war, so wie er uns zusetzte. Mein ganzes Leben lang hatte mein Vater alles ausgefüllt, und nun war es überhaupt nicht leicht, ihn einfach so aus meinem Dasein zu streichen. Er war immer präsent, auch wenn er gerade einmal nicht vor unserer Tür herumlungerte.
Aus diesem Zwiespalt heraus machte ich einen Fehler, der sich später rächen sollte. Ich wünschte mir, dass wir endlich alle wieder in Frieden leben könnten, so wie ich es bei meinen Schulkameraden sah, deren Eltern geschieden waren. Warum sollten wir Kinder nicht bei Elke leben und hin und wieder mal unseren Vater besuchen, mit ihm etwas unternehmen oder auch nur einen Kaffee mit ihm trinken? Ich redete mir ein, dass ich das ganz gut hinkriegte, und eine Weile schien es auch so. Wenn mein Vater mich auf meinem Nachhauseweg abpasste, dann redete ich mit ihm, während sich meine Geschwister von ihm fernhielten. Irgendwann hatte mich mein Vater so weich geklopft, dass ich mit Mourad und Meli sprach und sie dazu überredete, doch auch mal rauszugehen, wenn mein Vater vor dem Haus in seinem Auto wartete, und mit ihm ein bisschen zu reden. Mourad hatte nie einen guten Draht zu unserem Vater gehabt, er sehnte sich nach seiner Anerkennung, die er nie erhielt. Auch er war unfassbar von ihm gequält worden. Dennoch überwand nicht nur er, sondern auch Meli ihre Angst, um wenigstens ein bisschen Zeit mit unserem Vater zu verbringen. Ich unterschätzte damals Hamids Fähigkeit, Menschen zu manipulieren, und das sollte später ungeahnte Folgen haben. Damals handelte ich aus dem Wunsch heraus, dass endlich wieder ein bisschen Normalität einkehren würde.
Freundschaften zu schließen war für mich noch nie schwer gewesen, und auch in meiner neuen Schule fand ich rasch neue Freunde, teilweise habe ich zu diesen auch heute noch Kontakt. Meine neuen Lehrer zeigten leider wenig Verständnis dafür, dass ich so weit im Stoff hinterher war. Sie konnten auch mit meiner Art nicht umgehen; keiner machte sich die Mühe, hinter mein trotziges, schroffes und oftmals provozierendes Verhalten zu schauen, um herauszufinden, was eigentlich mit mir los war.
Und dann, als ich fast sechzehn war, geschah etwas, das mir zeigte, dass der Albtraum noch lange nicht vorbei war.
Eines Abends bin ich mit einem guten Freund unterwegs, einem Iraner, der einige Jahre mit seiner Familie in Mönchengladbach gelebt hat und vor Kurzem zurück nach Teheran gegangen ist. Er hat mich angerufen: »Ich bin für eine Woche in Mönchengladbach! Wollen wir uns sehen?«
Ich freue mich riesig, Ramesh wiederzusehen. Natürlich verbringen wir einen ganzen Abend zusammen.
Draußen liegt Schnee, und ich trage hohe weiße Stiefel mit Plateausohlen, dazu einen Minirock. Nach all den Jahren als Hippiemädchen lebe ich jetzt die andere Seite der Medaille aus, ganz ohne Hintergedanken, einfach nur, weil ich es schön finde und es endlich machen darf. Also trage ich die kürzesten Röcke und die ausgeschnittensten T-Shirts, auch mitten im Winter.
Wir gehen etwas trinken, dann kaufen wir bei ein paar Typen, die wir kennen, ein bisschen Gras. Nun ist es schon spät und Ramesh will mich noch nach Hause bringen. Wir stehen an einer Straßenkreuzung und quatschen. Da fällt mir auf, dass wir die ganze Zeit schon Rot haben; doch der Wagen, der dort steht, fährt trotzdem nicht weiter, obwohl die Ampel für den Fahrer schon lange auf Grün steht.
Der Schock fährt mir durch alle Glieder, da geht auch schon die Fahrertür auf und mein Vater steigt aus. Und das Schlimme ist: Ramesh ist völlig ahnungslos. Aus Scham habe ich ihm nichts erzählt.
»Oh«, wispere ich, »mein Vater!«
Ramesh sieht sich erfreut um.
»Echt?«, fragt er. »Wo denn?«
Da hat er auch schon Hamid Al-Mers Faust im Gesicht, und weit und breit ist keine Menschenseele, die ich zur Hilfe herbeirufen könnte. Zu meinem Entsetzen beginnt mein Vater, Ramesh systematisch zusammenzuschlagen. Ich versuche, ganz laut zu schreien, doch alles, was aus meiner Kehle kommt, ist ein heiseres Krächzen. Ich laufe los, um Hilfe zu holen. Nach ein paar Metern drehe ich mich um und sehe Ramesh im Schnee liegen, der sich rot färbt von seinem Blut.
»Wer bist du?«, brüllt mein Vater ihn an.
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