Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
Vom Netzwerk:
will, komme ich zurück.«
    Die Wirkung, die diese plötzlichen Erscheinungen auf mich hatten, war katastrophal, ich verfiel in eine regelrechte Angstpsychose. War ich unterwegs und irgendwo fiel ein Blatt vom Baum, erschrak ich fast zu Tode. Es genügte, dass ich schnelle, feste Schritte hörte oder dass eine Tür laut ins Schloss fiel, und schon bekam ich solche Magenkrämpfe, dass ich mich wie ein Embryo zusammenkrümmen musste und keinen Schritt mehr weitergehen konnte, so groß war meine Angst. Es war mein Körper, der als Erstes reagierte, mit Krämpfen, Schmerzen, Lähmungserscheinungen. Die Gefühle folgten meinem Körper mit Todesangst. Es war, als strömte alle Lebenskraft, alle Wärme aus meinem Körper, und zurück blieb so etwas wie eine eisige Hand, die nach meinen Eingeweiden griff. Mein Vater brauchte gar nicht mehr aufzutauchen, allein die beständige Möglichkeit, ihn jederzeit irgendwo zu sehen, reichte aus, um mich völlig aus der Bahn zu werfen.
    Auch zu Hause fanden wir keine echte Stabilität. Elke, die ohne Mann nicht sein konnte oder wollte, ging viel aus in diesem ersten Jahr ihrer Trennung von Hamid. Einmal ging sie mit ihren Arbeitskolleginnen auf ein Feierabendbier weg und kam die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag nicht nach Hause. Ich machte mir riesige Sorgen um sie: Hatte mein Vater ihr wieder aufgelauert? War sie in Schwierigkeiten? Sollte ich die Polizei alarmieren? Wo, verdammt noch mal, steckte sie?
    Wir hatten nichts zu essen im Haus, weil der übliche Wochenendeinkauf am Samstagmorgen ausgefallen war. Ich konnte meinen Geschwistern nicht mal einen Toast machen. Das Einzige, was ich fand, waren Nudeln, und die machte ich dann. Nudeln mit nix, nannten wir das.
    Ich werde nie vergessen, wie meine Geschwister dasaßen, Nudeln in sich hineinstopften und vollkommen in sich vergraben waren. Mourad, so schien mir, hatte nicht mehr aufgeschaut, seit er den Gameboy geschenkt bekommen hatte, er spielte sogar im Gehen damit. Und wenn es das nicht war, dann machte er Video-Spiele in seinem Zimmer.
    Melissa war damals neun und ebenfalls völlig in sich zurückgezogen. Sie lebte wie unter einer Glasglocke, zeigte keine Regungen; ich fand nie heraus, wie es ihr wirklich ging. In ihrem Zimmer hatte sie eine merkwürdige Ordnung: Sie reihte alle ihre Sachen akkurat auf. Ihre Stofftiere saßen der Größe nach geordnet auf ihrem Bett, die Kosmetikartikel auf einen halben Millimeter Abstand genau auf dem Fensterbrett. Als ich einmal auf dem Weg nach draußen an ihrem Zimmer vorbeikam und kurz ihren Lippenpflegestift benutzte, flippte sie total aus, tobte wie eine Wahnsinnige. Da begriff ich, dass diese Ordnung die einzige in ihrem Leben war und dass sie die um jeden Preis verteidigen musste.
    An jenem Wochenende tauchte Elke irgendwann am Samstagnachmittag wieder auf, bepackt mit Einkaufstüten und einem schlechten Gewissen. Jedem von uns hatte sie das mitgebracht, was wir an Süßigkeiten am liebsten mochten. Dann erzählte sie uns, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, mit dem sie jetzt zusammen war. Ich konnte gut verstehen, dass auch sie ein neues Leben anfangen wollte, sie war schließlich erst Anfang dreißig. Mourad allerdings kam damit überhaupt nicht zurecht. Was Melissa dachte, fand keiner heraus.
    Und ich hatte die Nase voll davon, die vernünftige Älteste zu sein, meine kleine Schwester ins Bett zu bringen, Essen zu machen, an den beiden die Mutterstelle zu vertreten. Das alles hatte ich viel zu lange getan.
    Nun kam also Dieter in unser Leben, Elkes neuer Freund. Und wieder einmal war es so, dass der Mann in ihrem Leben an erster Stelle stand, noch vor ihr selbst und ihren Kindern. Die Sonnenblume in ihr richtete sich nach ihrem neuen Partner aus, und so kam es, dass wir uns mehr und mehr unerwünscht fühlten.
    Ich blieb immer länger von zu Hause weg, ging nach der Schule zu Freundinnen und kam am Wochenende gar nicht erst heim. Ziellos holte ich all das nach, was mir früher versperrt gewesen war. Um meine Angst zu betäuben, nahm ich Drogen, und es kam vor, dass ich in Wohnungen aufwachte, von denen ich nicht wusste, wem sie gehörten. Elkes Wohnung wurde für mich in dieser Zeit mehr und mehr zum Basislager, in das ich zurückkehrte, wenn ich keine saubere Wäsche mehr hatte oder mich ausruhen musste. Dann war ich wieder weg und sagte keinem, wohin ich ging. Mehrmals meldete Elke mich als vermisst, doch eigentlich kam ich mir selbst abhanden in diesen fast zwei Jahren

Weitere Kostenlose Bücher