Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
sollten von uns selbst eine Gipsmaske anfertigen und sie dann bemalen. Ich nahm diese Aufgabe sehr ernst und gestaltete die Maske folgendermaßen: Aus der einen Hälfte machte ich ein exaktes Abbild von meinem Gesicht samt meiner auffallenden Art, mich zu schminken. Und die andere Seite beschmierte ich mit meinem eigenen Blut und gestaltete sie mit Narben, dazu schlug ich Kerben in den Gips. Meine Klassenkameraden reagierten schockiert. Als die Maske fertig war, erkannte ich, was ich da gemacht hatte, und meine Lehrerin analysierte sie genauso:
»Aha«, meinte sie in einem eher distanzierten Ton, »das hier bist du also, wie du nach außen bist. Und das mit dem ganzen Blut und den Narben, so sieht es in dir drinnen aus.«
»Ja, genau«, sagte ich.
Eigentlich wartete ich darauf, dass meine Lehrerin noch irgendetwas zu mir sagen würde, dass sie mir vielleicht einen Rat geben könnte, mir ein Gespräch anbieten würde. Doch nichts geschah, die Sache war für sie damit erledigt.
Und so habe ich gemerkt, dass sich eigentlich niemand für mich interessierte, dass sich niemand wirklich um mich kümmerte, dass meine Signale, die ich auszusenden in der Lage war, wohl wahrgenommen, aber nicht verstanden wurden. Und schloss mich immer mehr in mich selbst ein.
Damals begann ich mit Drogen zu experimentieren, probierte alles Mögliche aus, hoffte auf Bewusstseinserweiterungen und fand sie mitunter auch. Ja, ich glaube heute tatsächlich, dass diese Erfahrungen mein Leben damals nicht nur bereichert haben, sondern mich auch davor bewahrten, verrückt zu werden. Ich lernte psychedelische Pilze kennen, die mir eine Tür zu einer anderen Welt öffneten. Ich habe sie als schamanische Instrumente benutzt und sie halfen mir, Kontakt zu meinen Ahnen aufzunehmen. Durch diese Erfahrungen lernte ich, auf den Fluss des Lebens zu vertrauen – ausgerechnet ich, die ich von frühester Kindheit an mit Schmerz, Gewalt und Todesangst konfrontiert worden war. Es tröstete mich unendlich, zu spüren, dass der Himmel mein Vater ist, die Erde meine Mutter, die Bäume meine Geschwister. Hier in dieser anderen Welt fand ich endlich die Familie, die mich niemals betrügen, niemals misshandeln oder verlassen würde. Ich fühlte mich nicht mehr so allein, fühlte die Verbindung zur Natur und zum Universum. Und das machte mich in all dem Gefühlschaos und inmitten der ständigen Bedrohung auf eine Weise ruhig, wie ich es vorher allenfalls bei meinen Meditationen mit Lukas ein Stück weit erahnt hatte.
Ich lernte damals den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit – All-Eins-Sein. Ja ich kann sagen, dass ich damals meine Wurzeln, die ich bislang immer hinter mir hergeschleppt hatte, in die Mutter Erde versenkte. Bis heute geben sie mir einen gewissen Halt.
Natürlich machte ich auch eine Menge anderer Erfahrungen. Da ich die Einzige war, die in diesem Alter bereits eine eigene Wohnung hatte, hingen bei mir immer öfter irgendwelche Freaks ab, die zu Hause rausgeflogen waren: Drogendealer, die hier in aller Ruhe ihre Telefonate und Geschäfte abwickeln konnten. So kam ich auch an Drogen heran, die ich mir sonst überhaupt nicht hätte leisten können, zum Beispiel Kokain. Meine Bekannten konnten bei mir ihr Zeug konsumieren und in Ruhe ihre Sachen abwickeln, und darum bekam ich Koks umsonst.
Es dauerte nicht lange, und ich war auf demselben Trip wie mein Vater: Haschisch und Kokain. Ohne dass ich es merkte, war ich auch schon abhängig von Koks. Man hat da ja keine so auffallenden körperlichen Suchtmerkmale wie bei Heroin, sondern man ist einfach mies drauf, wenn man nichts nimmt. Aber mies drauf ist man ja auch so manchmal, nur wurde jetzt alles noch schlimmer.
Im Nachhinein betrachtet hatte ich damals immer wieder unfassbares Glück, denn ich geriet in dieser Zeit in Neuss in viele gefährliche Situationen. Trotzdem ist mir nie etwas passiert. Vielleicht schützte mich das Gefühl, dass nichts so schlimm sein konnte wie mein Vater und das, was er mir angetan hatte. Ich wohnte ja ganz allein dort draußen in der Nähe des Hafens. Und wie oft stakste ich in meinem ultrakurzen Outfit spät in der Nacht auf meinen hohen Schuhen nach Hause!
Einmal fuhr ich nachts mit der Bahn und fragte den einzigen anderen Typen, der noch unterwegs war, ob er vielleicht Drogen dabeihätte. Ich war auf Ecstasy aus, doch der Typ sagte, er habe nur Haschischöl, das habe er gerade frisch aus Holland geholt.
»Cool«, sagte ich, denn ich wusste, dass dieser
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