Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
wir uns einmal wiedersehen könnten.
20
Der Prozess
I n jener Zeit lebte ich in einer seltsamen Stimmung. Einerseits hatte eine Art Euphorie von mir Besitz ergriffen, denn endlich geschah etwas, endlich hatte ich die Initiative ergriffen, nach all der Zeit des Duldens und Hinnehmens. Auf der anderen Seite rechnete ich jeden Tag damit, dass es mein letzter sein würde. Jeder Gang zum Gericht war ein Risiko. Auch wenn mich Frau Schilling, die treu zu mir stand, mit dem Auto abholte, so gab es doch jede Menge Gelegenheiten für einen Schützen, mich ohne Probleme zu treffen, wenn er es wirklich wollte. Paradoxerweise waren ausgerechnet jene Momente die ungesichertsten, wenn wir bei Gericht ankamen, aus dem Wagen stiegen und das Gebäude betraten. Denn mein Vater, der stets von seiner Gang umgeben war wie ein Rockstar, kam meist zur selben Zeit dort an.
Eines Morgens bekamen wir bei genau dieser Gelegenheit tatsächlich einen Riesenschrecken. Wieder einmal betraten wir fast gleichzeitig das Gebäude, und auf einmal stürzte sich mein Vater auf mich. Mir blieb fast das Herz stehen. In diesem Moment hätte alles passieren können – mein Vater jedoch wollte mich angeblich nur theatralisch in die Arme schließen. Ich weiß nicht, was er damit bezweckte, ob er »der Welt« zeigen wollte, dass er seine kleine Tochter liebte und ihr niemals etwas Böses getan hatte? Oder ob er demonstrieren wollte, dass er mir großmütig verzieh? Vielleicht wollte er einfach auch nur herausfinden, wie schnell die Ordnungskräfte reagierten. Tatsächlich waren sie sofort da und zerrten ihn von mir weg. Ob es allerdings schnell genug gewesen wäre, hätte mein Vater ein Messer oder eine Pistole gehabt, das bezweifle ich.
Eigentlich wollte das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen, wie es bei einem solchen Fall üblich ist. Doch ich kämpfte dafür, dass öffentlich verhandelt wurde. Das wunderte viele. Der Grund dafür war: Ich wollte unbedingt, dass meine gesamte Familie hören konnte, was ich zu sagen hatte. Ja, ich hatte die Hoffnung, dass ich nicht nur vor einem deutschen Gericht Gerechtigkeit erfahren würde, sondern auch vor meiner Familie. Dass sie endlich verstanden, warum ich diesen Schritt getan hatte: damit sie erfuhren, was mein Vater mir angetan hatte. Ich wollte, dass sie einsahen, warum ich mich von ihm abgewandt hatte und nicht mehr mit ihm leben konnte. Alles was ich suchte, war Verständnis und Frieden. Wie gerne wäre ich bei Familienfesten wieder dabei gewesen, ja, es schmerzt mich heute noch, wenn ich bei diesen Gelegenheiten ausgegrenzt werde, denn schließlich bin nicht ich diejenige, die etwas verbrochen hat. Ich wollte, dass sie verstanden, dass es mein Vater war, der Hass und Streit in unsere Familie gebracht hatte, nicht ich.
Und darum inszenierte ich meine Auftritte vor Gericht wie meine eigene, persönliche Performance. Ich hatte mir vorher alles genau überlegt. In dieser Zeit lief ich stets barfuß, und so kam ich auch barfuß zu den Verhandlungen. Ich trug einen langen Rock und Blusen, dazu ein Kopftuch, was ich sonst nie tat. Damit wollte ich ein Zeichen setzen. Ich wollte ein wenig Verwirrung stiften und der Öffentlichkeit – und meiner Familie – zeigen, dass ich unsere Tradition achtete. Dass ich eine moderne Frau war, das hörte man an meinen Aussagen, die mitunter sogar den Richter verblüfften, zum Beispiel als ich über meinen Vater sagte: »Ich glaube, dass Verzweiflung des Verstands zu Gewalt führt«, und damit auf die Unterforderung des Intellekts meines Vaters und seine daraus resultierende Frustration anspielte. Solche Worte von einem jungen Mädchen zu hören, das angezogen war wie eine Frau aus einem anatolischen Dorf, das musste einfach verwirren. Ich wollte auch mit den überall verbreiteten Vorurteilen aufräumen, dass eine Frau, die sich so kleidet, nichts im Kopf hat, und der deutschen Sprache nicht mächtig sein kann. Im Grunde kleidete ich mich wie meine Mutter, wie Saliha.
Vor Gericht ging es um die vielen Gelegenheiten, bei denen mein Vater mich misshandelt und beinahe getötet hatte. Ganz besondere Bedeutung hatte jener Abend, an dem er mich beinahe vergewaltigt hätte. Aber auch Leylas Geschichte spielte natürlich eine Rolle, außerdem seine Attacken auf Ramesh und Behzad.
Mein Vater stritt alles kategorisch ab. »Das hat sie sich alles ausgedacht«, behauptete er, »in Zusammenarbeit mit meiner Exfrau.«
Als er merkte, dass es eng für ihn wurde, überredete mein Vater
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