Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
darauf reagieren würde.
»Ach, weißt du«, sagte sie zu meinem Erstaunen in aller Ruhe, »das nimmt doch jeder mal in seinem Leben. Das sind Erfahrungen, die du machen willst, aber irgendwann ist das langweilig, und dann brauchst du es nicht mehr.«
Oder die Art, wie ich mich kleidete. »Na ja, im Moment findest du das halt schön. Ist doch egal. In ein paar Jahren hast du Lust, dich anders anzuziehen.«
Sie vertraute mir, und das war eigentlich das größte Geschenk, das sie mir machen konnte. Wenn sie mich zu Hause nicht antraf, hinterließ sie mir jedes Mal Postkarten, die sie sorgfältig auszuwählen schien, denn immer trafen sie etwas, das mit meinem Leben oder mit den Themen, mit denen ich mich gerade beschäftigte, zu tun hatte. Einmal war es eine Postkarte mit einem Foto von Jimi Hendrix. Und sie schrieb Sachen wie: »Liebe Meral, geht es Dir gut? Bitte denk daran, dass Du am Donnerstag diesen Termin beim Jugendamt hast. Ich hoffe, Du hast einen schönen Tag, Deine A. Schilling.« Ich habe jede einzelne Karte von ihr aufgehoben.
Den größten Vertrauensbeweis erhielt ich von ihr, als sie mir glaubte, dass mir meine kriminellen Nachbarn das Wochengeld geklaut hatten. Ihr Vertrauen stärkte mich und sorgte dafür, dass ich sie nicht enttäuschen wollte.
Nun aber fand sie, dass die »Phase« mit meinem Vater eindeutig zu lange dauerte. »Es wird Zeit«, sagte sie, »dass ihm Grenzen aufgezeigt werden. Er muss lernen, dass man in Deutschland nicht ungestraft seine Tochter jahrelang misshandeln, fast vergewaltigen und ständig belästigen und bedrohen darf. Das hat er jetzt lange genug gemacht, jetzt muss er sich etwas anderes suchen, womit er sich beschäftigen kann. Du musst in Ruhe deine Schule machen.«
Es war nicht das erste Mal, dass ich zu hören bekam, ich solle meinen Vater anzeigen. Doch ich fürchtete mich vor diesem Schritt. Wie würde das ablaufen? Würde er mich nicht ganz einfach umbringen, noch bevor die Verhandlung richtig begonnen hatte? Wie musste ich das anpacken? Das alles würde ohnehin nur Sinn machen, wenn er hinter Schloss und Riegel verschwinden würde; dann erst würde ich mich sicher fühlen. Doch was, wenn er mit einer Geldstrafe davonkäme oder mit Bewährung? Wer würde mir helfen, mich vor seiner Rache beschützen? All diese Überlegungen hatten mich bislang davon abgehalten, den Schritt zu wagen.
Doch Frau Schilling sagte: »Meral, wenn du deinen Vater anzeigen willst, dann bin ich bei dir. Und ich bleibe bis zuletzt an deiner Seite. Egal wie es ausgeht, wir finden dann schon eine Lösung.«
Das hatte noch niemand gesagt. Ich wusste: Was Frau Schilling verspricht, das hält sie auch. Gemeinsam, so war ich mir sicher, würden wir das schaffen.
Da diese Materie ja auch für meine Betreuerin neu war, machten wir unsere Erkundigungen und Recherchen gemeinsam. Wir hörten uns um, vereinbarten Beratungsgespräche mit verschiedenen Einrichtungen. Wenn ich bei ihr im Wagen saß und wir durch die Stadt fuhren, war ich manchmal fast glücklich. Dann kamen alte Erinnerungen hoch: »In dieser Straße war es, wo mein Vater Ramesh zusammengeschlagen hat, genau an dieser Kreuzung …«, und so erfuhr Frau Schilling nach und nach immer mehr Details aus meiner Geschichte. Ich mochte es, wie sie mir zuhörte, immer mit viel Mitgefühl und doch mit einem professionellen Abstand und dem ihr ganz eigenen Pragmatismus. Immer wieder zeigte sie mir meine Grenzen, aber auf eine freundliche und nachvollziehbare Art und Weise, die ich gut annehmen konnte und für die ich ihr sogar dankbar war.
Als ich so weit war und meinen Vater tatsächlich anzeigen wollte, sagte sie: »Dann gehen wir jetzt zur Polizei und erkundigen uns mal, was man da machen muss.«
Auf der Polizeidienststelle wurden wir von einem Beamten zum nächsten weitergereicht. Mehrmals musste ich meine Geschichte erzählen. Ich erinnere mich gut daran, wie wir schließlich in einem Büro mit einem Polizisten landeten, der das Protokoll aufnahm. Mir war es äußerst unangenehm, mit einem Mann über so intime Details zu sprechen wie zum Beispiel, ob mein Vater mir in jener Nacht, als er mich vergewaltigen wollte, die Strumpfhose ganz ausgezogen hatte, und so fort. Frau Schilling bemerkte das und sagte: »Ich glaube, es wäre besser, wenn da eine Frau wäre, die solche Aussagen aufnimmt.«
Natürlich sprach ich auch mit Elke darüber, dass ich Hamid anzeigen wollte. Wir sahen uns oft, und unser Verhältnis glich mehr und mehr dem von
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