Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
vorbei. Überhaupt, was macht Hamid denn so, wie geht es ihm?«
»Wie, ›Was macht er so‹ – ich kann hier nicht atmen, und du willst wissen, wie es ihm geht? Sein Terror hat sich vom Haus auf die ganze Stadt ausgeweitet. Du musst mir helfen!«
»Ja, aber«, wandte sie ein, »er hat sich doch beruhigt. Und so viel Alkohol trinkt er auch nicht mehr …« Da wurde mir klar, dass sie offensichtlich wieder Kontakt zu meinem Vater hatte. Was ich auch sagte, um sie umzustimmen, sie lachte nur albern. Ich war unsagbar enttäuscht. Ihre Aussage hätte unserer Klage mit Sicherheit mehr Gewicht verliehen und letztlich das Strafmaß meines Vaters noch bedeutend erhöhen können.
Dann war da noch Hannah, jene Freundin von Elke, die mein Vater ebenfalls vergewaltigt hatte. Damals hatte sie sich Elke anvertraut, doch die war ja stets darauf bedacht gewesen, den Hausfrieden irgendwie aufrechtzuerhalten. Zudem hatte sie sich konsequent geweigert, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass ihr Mann mit anderen Frauen rummachte, also war damals nichts geschehen. Inzwischen hatte Hannah beschlossen, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Keinesfalls wollte sie ihren Familienfrieden riskieren; sie war unsicher, wie ihr Mann reagieren würde, der ja von nichts wusste. Auch Ramesh wollte nicht aus Teheran anreisen, um auszusagen, wie mein Vater ihn damals zusammengeschlagen hatte. Einzig und allein Behzad schloss sich unserer Klage an, wenigstens er.
Und so kam die Sache ins Rollen.
War mein Vater überrascht, als er die Klageschrift zugestellt bekam? Er wurde nicht in Untersuchungshaft genommen, weil angeblich keine Fluchtgefahr bestand.
»Warum nicht?«, fragte ich mich. »Wer sagt denn, dass er nicht morgen in die Türkei geht und nicht mehr wiederkommt?«
Zunächst sah ich mich stattdessen einer immer massiver werdenden Verfolgung ausgesetzt. Mein Vater hatte seine kleine »Armee« mobilisiert, die aus seinen Brüdern, Schwagern, Cousins und Freunden bestand. Täglich lungerte nun mindestens einer von denen vor meinem Haus herum. Außerdem bombardierten meine Verwandten mich mit Anrufen.
»Das kannst du doch deinem Vater nicht antun«, hieß es. »Das macht eine Tochter einfach nicht. Zieh die Anzeige zurück, und alles ist wieder gut! Aber wenn nicht …«
Auf der Straße konnte es passieren, dass auf einmal ein Onkel neben mir herging und auf mich einredete. Allein ihre ständige Gegenwart bedeutete ungeheuren Stress für mich. Stets hatte ich eine Sprühdose mit Tränengas bei mir, falls mich einer angreifen sollte. Sie verfolgten mich mit dem Auto und zu Fuß. In der ganzen Stadt hatten sie an neuralgischen Punkten, an denen ich mich oft aufhielt, Posten aufgestellt, zum Beispiel vor den Häusern meiner Freunde, vor dem Café, in dem ich arbeitete, und vor meiner Abendschule. Ich konnte deutlich sehen, wie sie aktiv wurden, sobald sie mich sichteten, ihr Handy zückten und eifrig telefonierten. Kurze Zeit später waren sie dann alle da, postierten sich sternförmig um mich, kesselten mich ein.
Ich erwirkte eine richterliche Verfügung gegen jeden Einzelnen von ihnen, sodass auch sie mir nicht näher kommen durften als auf fünfhundert Meter. Das schreckte sie eine Weile ab, doch nur kurz. Wenn ich sie nicht immer wieder anzeigte und sie daraufhin ein Bußgeld bezahlen mussten, konnte ich sie mir nicht vom Leib halten.
Damals besuchte ich eines Tages während der Mittagspause meine Tante Suheila in dem Kindergarten, in dem sie arbeitete. Sie war immer die Vernünftigste von allen gewesen, und ich wollte ihr erklären, warum ich mich dazu entschlossen hatte, meinen Vater anzuzeigen. Denn noch immer war mir wichtig, dass meine Familie mich verstand. Sie hörte sich alles in Ruhe an und meinte schließlich: »Wenn das so ist, Meral, dann musst du das tun.«
Später jedoch fiel auch sie mir wieder in den Rücken.
Während jenes Gesprächs kam auf einmal, ich weiß nicht mehr wie, die Sprache auf meine richtige Mutter, von der ich ja glaubte, dass sie gestorben sei.
»Nein, nein«, entgegnete Suheila, »das stimmt nicht. Vor einem Jahr musste Saliha ins Krankenhaus, ich weiß nicht, was sie hatte. Aber es geht ihr schon lange wieder gut.«
Ich hätte beinahe mein Teeglas fallen lassen.
»Wieso sagt mir das denn keiner?«, rief ich aus. Mir wurde ganz schwindelig. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, Saliha sei tot.
Ich dachte viel an meine Mutter in dieser Zeit. Jetzt erwog ich zum ersten Mal die Möglichkeit, dass
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