Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
schüttelten den Kopf.
»Okay«, sagte ich. »Ein rosarotes Brautkleid tragen und barfuß laufen ist also nicht verboten. Das haben wir geklärt, oder? Aber jetzt sehen Sie sich bitte diese Leute da an. Was würden Sie sagen, wie weit sind die von hier entfernt?«
Jetzt waren die beiden völlig verwirrt.
»Sind das fünfhundert Meter oder eher zwanzig, dreißig? Was würden Sie sagen?«
»Na ja«, meinte einer von den beiden und kratzte sich am Kopf, »mehr als dreißig Meter sind das nicht.«
»Aha«, sagte ich. »Dabei gibt es für jeden einzelnen von denen eine richterliche Verfügung darüber, dass sie sich mir höchstens auf fünfhundert Meter nähern dürfen. Wer verstößt hier gegen Gesetz und Ordnung?«
Das Ende vom Lied waren wieder Bußgelder für meine Onkel. Und für mich ein kleiner Triumph.
Als er merkte, dass er außer seinem Verteidiger, der auf seine genialen, aber leider krummen Vorschläge überhaupt nicht einging, bei Gericht niemanden hatte, der seine Partei ergriff, fasste mein Vater einen radikalen Plan: Er beschloss ein Zeichen zu setzen, an dem die Welt nicht vorbeikonnte. Und so verfiel er auf die Idee, sich mit Benzin zu übergießen und einen Märtyrertod zu sterben. Als Schauplatz wählte er den Platz vor der israelischen Botschaft aus, die sich damals noch in Bonn befand. Warum er ausgerechnet dorthin ging, das bleibt sein Geheimnis – vielleicht wollte er gleich mehrere Zeichen auf einmal setzen, als Vater gegen den Prozess und als Araber gegen Israel? Jedenfalls stellte er sich vor die mit Sicherheit bestbewachte Botschaft in Bonn, übergoss sich mit Benzin und zündete sich tatsächlich an. Die israelischen Sicherheitskräfte, die natürlich glaubten, es mit einem Selbstmordattentäter zu tun zu haben, retteten ihn in Sekundenschnelle.
Für erhebliche Brandverletzungen hatte es immerhin ausgereicht. Er kam in eine Spezialklinik und danach – nun also doch – in die Psychiatrie.
Bei mir lief wieder das Telefon heiß. Meine Onkel riefen der Reihe nach an, danach die Tanten. »Du musst Gnade vor Recht ergehen lassen, Meral«, beschworen sie mich. »Das hat dir doch alles nur Elke eingeredet, eine Tochter macht so etwas nicht. Den eigenen Vater vor Gericht zu zerren, das ist das Schlimmste, was eine Tochter ihm antun kann«, hieß es weiter, die alte Leier. »Klar hat er dich mal gehauen, wir alle haben in unserer Jugend Schläge bekommen, und geschadet hat es uns nicht …«, und so weiter und so fort.
Eines Tages besuchte mich einer der Onkel.
»Dein Vater stirbt«, sagte er. »Wenn du ihn sehen könntest! Es ist furchtbar, ihm geht es so schlecht. Er bereut alles, glaub mir. Sein einziger Wunsch ist es, dich noch einmal zu sehen …«
»Also, wenn er tatsächlich stirbt«, überlegte ich mir, »dann will ich ihn mir noch einmal anschauen.« Und ich fuhr mit meinem Onkel in die Klinik.
Es war dieselbe Einrichtung, in der ich nach meinem dramatischen Selbstmord-Treppensprung zwei Wochen verbracht hatte. Hier ein Jahr später vorzufahren war ein seltsames Gefühl für mich. »Wie viel«, dachte ich, »hat sich inzwischen doch bei mir geändert!«
Als wir ins Zimmer kamen, begann mein Vater zu winseln und laut zu schluchzen. Ich musterte ihn ungläubig, denn er trug ein Stirnband, so wie die Kämpfer der PKK , dabei hatten wir mit Kurden überhaupt nichts zu tun. An den Wänden hingen Poster von Che Guevara, Haile Selassi und dem türkisch-kurdischen Regisseur Yilmaz Güney, der mit seinem Film Yol international bekannt geworden war. Mein Vater trug nicht nur ein Stirnband, sondern auch ein Palästinensertuch. Das riss er sich nun vom Hals und zerrte an den Verbänden an seinen Schultern, um mir seine Wunden zu zeigen.
»Meine Tochter!«, rief er in weinerlichem Ton aus. »Mein Mädchen, mein Kind, mein Ein und Alles. Komm! Setz dich auf meinen Schoß!«
Ich dachte natürlich nicht im Traum daran, mich meinem Vater wie in alten Zeiten auf den Schoß zu setzen. Ich war erwachsen, und außerdem lief zwischen uns ein Gerichtsverfahren wegen versuchter Vergewaltigung und einiger anderer Gewaltdelikte.
Er weinte furchtbar, laut und theatralisch, Rotz und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Ich weiß nicht, was er sich von diesem Treffen versprochen hatte. Glaubte er wirklich, ich würde meine Anklage zurückziehen, wenn ich ihn so sah? Tatsächlich sorgte dieser Auftritt dafür, dass ich ihn zu verachten lernte. Ihm ging es überhaupt nicht so schlecht, von Sterben konnte
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