Nicht schießen, Johnny!
gedacht, er habe sich verlaufen; sie hätten sich erboten, ihn nach Hause zu bringen, in der Hoffnung, sich dadurch ein paar Dollars zu verdienen. Die Geschichte erscheint mir nicht ganz glaubhaft; andererseits gibt’s bisher keinen Beweis dafür, daß sie irgendwelche kriminelle Absichten hatten. Wie dem auch sei, Johnny bekam es offenbar mit der Angst und schoß. Ich glaube aber nicht, daß er es vorsätzlich tat.«
»Und -?« flüsterte Maggie.
»Einer der Jungen wurde in den Bauch getroffen. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid, Mrs. McGuire -«
»Kommt der Junge durch?« fragte sie mit erhobener Stimme.
Tibbs schüttelte den Kopf. »Er starb vor ein paar Minuten im Krankenhaus.«
Sie vergrub ihr Gesicht in den auf dem Tisch gekreuzten Armen. Tibbs schaute McGuire an, dessen Gesicht jetzt totenblaß war. »Sollten Sie Ihren Sohn vor mir sehen oder sprechen, dann erzählen Sie ihm um Himmels willen nicht vom Tod des Jungen. Falls er den Revolver noch hat...«
»Ich nehme ihm das Ding weg«, versprach Mike. »Sie können das verdammte Schießeisen haben. Ich wollte, ich hätt’s nie gesehen.«
»Um welchen Typ handelt es sich genau?« fragte Tibbs. »Ich weiß, daß Sie sagten, es wäre ein Colt Kaliber .38, aber davon gibt’s mehrere. Können Sie mir nicht das Modell nennen?«
»Es ist ein Chiefs Special«, antwortete Mike. »Kennen Sie ihn?«
»Ja, ich kenne das Modell. Ich glaube, Sie möchten jetzt gern allein sein. Heute nacht werde ich Sie nicht mehr stören.«
»Und wenn Sie Johnny finden?«
Virgil Tibbs überlegte. »In Anbetracht dessen, was passiert ist, müssen wir ihn wohl - zumindest vorübergehend - festnehmen. Aber es dürfte für ihn und seine Mutter das beste sein, wenn wir ihn vorher für ein Weilchen herbringen.«
Mike rieb sich mit der flachen Hand das Kinn. »Das ist ver- dämmt anständig von Ihnen«, sagte er und war in seinem Überschwang sogar bereit, über die Rassenzugehörigkeit seines Besuchers großmütig hinwegzusehen.
Erschöpft fuhr Tibbs abermals zum Präsidium zurück und erstattete Bericht. Danach fuhr er im eigenen Wagen nach Hause. In seinem Apartment angelangt, streifte er als erstes die Schuhe von den müden Füßen. Nach Essen war ihm nicht zumute; statt dessen mixte er sich einen Drink, setzte sich an das eine Ende der Couch und stärkte seine Lebensgeister, indem er ein wundervolles Gemälde an der gegenüberliegenden Wand betrachtete. Eine Landschaftsszene in Kalifornien, die beherrscht wurde von der Gestalt einer schönen, nackten, jungen Frau. Sie hatte tiefblaue, weit auseinanderliegende Augen und goldblondes Haar, das in der Sonne leuchtete. Sie blickte aus der Leinwand, stolz und unbefangen, direkt auf Virgil. Sie prunkte nicht mit ihren makellosen Brüsten; sie waren einfach ein Teil ihres vollkommenen Körpers.
Es handelte sich um ein Bild von beträchtlichem Wert, aber Tibbs bedeutete es viel mehr als nur das. Ein Original von William Holt-Rymers war für ihn unerschwinglich; aber dieses Bild war ein Geschenk des Meisters, er hatte es eigens für Tibbs gemalt, ohne Tibbs’ Wissen; es war eine Überraschung gewesen, und die junge Frau hatte ihren Teil dazu beigetragen, indem sie Modell saß. Der Alkohol linderte seine Erschöpfung. Ihm fiel ein, daß er seit Mittag nichts gegessen hatte. Er erhob sich und prostete dem Bild zu.
»Danke, Linda«, sagte er halblaut. Sobald er das kleine Ritual beendet hatte, zog er eine bequeme Hausjacke an, legte die neue Aufnahme von >Miroirs< auf den Plattenteller und inspizierte den Inhalt des Kühlschrankes. Als er am nächsten Morgen erwachte, nach einer Nacht, in der sich das Telefon nicht gemuckst hatte, wußte er, daß Johnny McGuire noch nicht aufgespürt worden war. Es bedeutete auch, daß der Revolver, den der Junge bei sich trug, nicht mehr in Aktion getreten war. Um halb neun war er im Büro, wo ihn, wie stets, ein Stapel von Arbeit auf seinem Schreibtisch erwartete. Bob Nakamura, ein >Nizei<, ein Amerikaner japanischer Abstammung, sein inoffizieller Partner, mit dem er sich das Büro teilte, saß zwei Meter entfernt über seinem eigenen Berg von Akten. Draußen herrschte schönes Wetter, das einzig Tröstliche an einem Tag, der Tibbs mit trüben Ahnungen erfüllte.
Über Johnny McGuire gab es nichts Neues.
Sowie Tibbs die wichtigsten Dinge aufgearbeitet hatte, begab er sich zu Captain Lindholm, dem Chef der Detektivabteilung. Nachdem sie sich kurz begrüßt hatten, kam Tibbs ohne Umschweife zur
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