Nicht schießen, Johnny!
stiegen wir alle aus, ich und Jeff und Harry. Stiegen bloß aus, das war alles. Und dann nannte uns der Kleine ’ne Horde verdammter Nigger.«
»Der Ausdruck gefällt mir nicht«, sagte Tibbs.
Zum erstenmal bekundete Dempsey so etwas wie Sympathie für den Polizeibeamten. »Tja, uns gefiel er auch nicht, und wir sagten ihm das. Auf ’ne nette Art, verstehen Sie. Er war ja bloß ’ne Rotznase.«
»Hatte er eine Jacke an?«
»Tja.«
»Welche Farbe?«
»Rot.«
»Neu?«
»Nix, ’n alter Fetzen. Die Ellbogen kamen durch.«
»Wie war das mit dem Revolver?«
»Also, zuerst sahen wir ja bloß die Tüte, die er mit sich rumschleppte. Beater fragte den Kleinen, was drin ist, und er sagte, sein Lunch.«
»Habt ihr ihm das geglaubt?«
»Natürlich nicht. Dann fiel die Tüte plötzlich runter, und da stand der Kleine mit dem Schießeisen in der Hand. Zuerst hielt ich’s für ’ne Wasserpistole oder so, aber dann sagte der Kleine, sie ist echt.«
»Und ihr habt das geglaubt?«
Die Stimme des jungen Negers wurde schrill. »Mister, ich wollt’s lieber nicht drauf ankommen lassen. Ich kurvte um ihn rum, damit ich ihn von hinten packen konnte. Jeff und Harry nahmen ihn von rechts und links in die Zange. Beater blieb vor ihm stehen. Wo der Kleine mit der Kanone auf ihn zielte, traute er sich nicht mal, bloß ’nen Finger zu bewegen.«
Tibbs spähte zum Empfangsschalter hinüber, aber die Schwester war anscheinend in das Ausfüllen von Formularen vertieft.
»Und dann?«
Wieder das aufreizende Achselzucken und dann, nach einer pause, die Antwort. »Der Kleine wollte sich losreißen, ballerte im gleichen Moment los und traf Beater in den Bauch. Der verdammte kleine Rotzer knallte ihn kaltblütig ab.«
»Weiter.«
»Also, Beater hielt die Hände vor den Bauch und kippte um. Mister, ich hatte einen solchen Bammel, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat; ich ließ den Kleinen los. Ich glaube, er schoß noch mal, aber genau weiß ich’s nicht; dann machte er kehrt und rannte weg. Wir ließen ihn laufen; wir trugen Beater zum Wagen, und ich brachte ihn her.«
»Wo sind die anderen?«
»Die gingen nach Hause.«
Tibbs zog sein Notizbuch hervor. »Wo wohnst du, Sport?« fragte er. Dempsey gab ihm seine Adresse und die der beiden anderen.
»Erzähl mir von Beater. Wie ist er?«
Das Achselzucken fiel diesmal weg; der Junge schien die Frage sogar gern zu beantworten. »Beater, also, der hat Talent, der kann alles. Wirklich scharfer Junge. Prima Schlagzeuger, besser als die meisten, deshalb nennen wir ihn auch so: Beater. Guter Boxer und immer fair, kann auch reden wie ’n Buch. Beater ist Klasse, wirklich.«
»Guter Freund von dir?«
»Der beste, den ich habe.«
Tibbs, der über den Zustand des verwundeten Jungen im Bilde war, wurde flau zumute. Die Sinnlosigkeit des Ganzen widerte ihn an. Der geladene Revolver, zu dem ein Kind Zugang hatte; der idiotische Fehler, einen total verängstigten Jungen von hinten zu packen, wenn dieser eine Waffe in der Hand hatte und jemand direkt vor ihm stand.
Verdammte Schießeisen! Das Recht, Schußwaffen zu besitzen und bei sich zu tragen, stammte aus jener Zeit, als die späteren Vereinigten Staaten noch ein unfertiges junges Land in einem großen, wilden, nahezu unerforschten Kontinent waren. In den dichtbesiedelten, modernen Städten von heute hingegen war eine Schußwaffe so gefährlich wie eine Sandviper, nur ein Werkzeug zum Töten, sonst nichts. Ein Mordwerkzeug. Zu seinen prominenten Opfern gehörte John F. Kennedy. Und Martin Luther King, dessen Tod Virgil, weil er selber ein Neger war, nie würde vergessen können. Denn King war mehr gewesen als nur ein prominenter Mann; er war die Hoffnung und der ganze Stolz eines unterdrückten Volkes gewesen, ein Mann, dessen Stimme überall gehört und respektiert worden war. Sein Mörder war nach einer ungewöhnlich intensiven Jagd gefaßt worden, aber das machte King nicht wieder lebendig, gab den Negern ihren Friedensnobelpreisträger nicht zurück.
Danach das Attentat auf Robert Kennedy - drei Kugeln aus einer kleinen ,22er hatten seinen Sieg über Eugene McCarthy ausgelöscht, seine kraftvolle Offensive, seine Bewerbung um die Präsidentschaft auf halbem Weg gestoppt. Ein einzelner, jeder x-beliebige, konnte jederzeit töten.
Und warum? Weil man Schußwaffen so mühelos kaufen konnte wie Kaugummi.
Irgendwo in der Stadt wanderte in diesem Moment ein neunjähriger Junge umher, verängstigt, auf sich allein gestellt, mit
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