Nicht schießen, Johnny!
so schlimm, als wenn es ein weißer Junge gewesen wäre, aber sie würden trotzdem böse auf ihn sein. Vielleicht würden sie ihn sogar deswegen verhaften.
Wie in den Fernsehkrimis würden sie ihn vor seiner Wohnung abfangen, was bedeutete, daß er jetzt nicht hingehen konnte. Er hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen, wenn er an seine Mutter dachte; sie würde sich Sorgen machen, denn er war noch nie über Nacht von zu Hause weggeblieben. Er schluchzte auf; er sehnte sich so sehr nach ihr!
Er mußte irgendwo hingehen, wo ihn die gottverdammten Cops nicht finden konnten. Sie würden ihn sofort an seiner Jacke erkennen; alle kannten seine kaputte Jacke; in der Schule zogen sie ihn deswegen auf. Aber weil es seine einzige Jacke war, und weil er sich nicht erinnern konnte, je eine andere gehabt zu haben, liebte er sie. Aber es war warm; er brauchte sie heute nicht, und sie würde ihn verraten. Er zog sie aus, legte sie sorglich zusammen und stopfte sie zwischen die Zweige des dicken Busches. Er tröstete sich damit, daß er sie sich morgen wieder holen würde.
Dann überlegte er, ob er den Revolver auch dalassen sollte. Er wäre ihn liebend gern losgeworden; die Waffe war eine Belastung und eine Gefahr, vor allem, falls er geschnappt werden sollte. Dann fielen ihm die vier schwarzen Gesichter ein; ohne den Revolver wäre er ihnen hilflos ausgeliefert gewesen. Der eine war verletzt, aber die drei anderen würden jetzt auf sein Blut aus sein. Wenn sie ihn fanden, und er seinen Revolver nicht mehr hatte, würden sie ihn töten.
So gut er konnte, wog er eine Gefahr gegen die andere ab. Den Ausschlag gab die Erinnerung an den Abend, wo sein kluger, starker Vater ihm den Revolver zum erstenmal gezeigt und erklärt hatte. »Ein Schießeisen ist was Gutes«, hatte sein Vater gesagt. »Es kann ja mal sein, daß du dich und deine Mutter verteidigen mußt. Angenommen, zwei oder drei gehen auf dich los, und gegen so viele hast du keine Chance. Aber ein
Schießeisen macht dich zum Boß; wenn sie das sehen, lassen sie dich in Ruhe. Mit ’nem Schießeisen erspart man sich einen Haufen Ärger.«
Nachdem dieser Punkt entschieden war, fragte er sich, wohin er gehen könnte. Er hatte den ganzen Tag vor sich, und es wäre zu riskant für ihn, einfach nur durch die Straßen zu bummeln. Er hatte in der Stadt keine Verwandten, hatte keinen einzigen Freund, dem er vertrauen konnte. Dann traf ihn, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine Erleuchtung: er konnte nach Anaheim gehen und sich ein Baseballspiel ansehen!
Er konnte endlich die Angels, das große Team, leibhaftig in Aktion sehen. Der Gedanke raubte ihm fast den Atem. Und er war durchführbar. Er hatte über fünfzehn Dollar in der Tasche, und das Geld gehörte ihm. Er hatte zwar keine Ahnung, wo Anaheim lag, aber Tausende von Leuten fuhren täglich zum Stadion hinaus; er würde sich einfach durchfragen.
Dann, als hätte sein persönlicher Schutzengel zu ihm gesprochen, fiel ihm ein, daß er doch einen Freund hatte, einen berühmten, einflußreichen Freund! Mit zitternden Fingern holte er seine kleine Brieftasche aus imitiertem Leder hervor und zog ein abgegriffenes Stück Papier heraus. Er trug es immer mit sich herum und hatte es so oft gelesen, daß es kaum noch in den Falten zusammenhielt. Sehr behutsam faltete er es auseinander und las die Worte, die er inzwischen längst auswendig konnte:
Lieber Johnny,
vielen Dank für deinen netten Brief. Es freut mich, daß du Fänger bei den Angels werden willst. Das beste, was du bis dahin tun kannst, ist, jeden Tag deine Milch zu trinken und möglichst viel zu üben.
Ich fühle mich sehr geschmeichelt darüber, daß du mich so gern kennenlernen möchtest. Wenn du das nächstemal im Stadion bist, komm mit diesem Brief zur Klubhaustür und zeige ihn dem Pförtner, damit er mir Bescheid sagt. Dann komme ich raus und sage dir guten Tag.
Dein Freund
Tom Satriano
Johnnys Entschluß stand fest. Er würde sich irgendwie nach Anaheim durchschlagen, den kostbaren Brief vorzeigen und mit Tom Satriano sprechen. Und er würde Tom Satriano spielen sehen! Dann kam ihm noch eine wundervolle Idee: wenn er mit Tom zusammentraf, würde er ihm erzählen, was passiert war, und Tom würde ihm helfen und sagen, was er tun sollte. Tom kannte sich aus, denn er war der Fänger, der wichtigste Spieler im Team, und ein sehr prominenter Mann, so prominent, daß er vermutlich sogar Gene Autry persönlich kannte.
Die Zeit drängte. Er mußte von hier
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