Nicht schießen, Johnny!
spät für ihn, davonzulaufen und sich zu verkriechen. Geschwind bückte er sich und klaubte so viele Zeitungen auf, wie er in einer Hand halten konnte. Er warf sie sich über den Arm - und über den Schuhkarton -, kauerte sich dann hin und klatschte eine zweite Lage Zeitungen über die erste. Er war noch damit beschäftigt, als der Streifenwagen vor ihm auftauchte und stoppte.
Zwei uniformierte Beamte saßen darin; der eine auf dem rechten Vordersitz steckte den Kopf durchs Fenster und sagte: »Guten Morgen, mein Sohn, wie geht’s?«
»Prima.«
»Wie heißt du?«
»Mike.«
»Wie lange trägst du schon Zeitungen aus, Mike?«
»Seit ungefähr zwei Monaten.«
»Hast du hier heute morgen einen anderen Jungen mit einer abgetragenen roten Jacke gesehen?«
Johnny schüttelte den Kopf. »Bin gerade erst gekommen.«
»Okay, schönen Dank.« Der Polizist winkte mit einer Hand, während der Wagen anrollte und langsam weiterfuhr.
In den folgenden zehn Minuten behielt Johnny seine Rolle als Zeitungsjunge bei, obwohl er davor zitterte, daß der rechtmäßige Eigentümer des Jobs jeden Moment auf der Bildfläche erscheinen und über ihn herfallen könnte. Er lief die Orange-Grove-Avenue hinunter und feuerte Zeitungen vor die Haustüren oder in die Vorgärten, wobei er sich alle paar Meter nach dem Bus umschaute. Als er schon fast keine Zeitungen mehr hatte, sah er endlich die viereckige platte Schnauze des mächtigen Vehikels in der Ferne auftauchen. Er fing an zu rennen, verteilte die letzten paar Exemplare und langte außer Atem gerade noch rechtzeitig an der Bushaltestelle an.
Da er schon mal allein im Bus gefahren war, stieg er forsch ein und gab dem Fahrer fünfzig Cents.
»Los Angeles?« fragte der Mann.
Johnny nickte und bekam einen Penny zurück. Er ging zu einem Sitz und ließ sich wunderbar erleichtert nieder. Noch nie zuvor hatte ihm eine Busfahrt so viel Spaß gemacht; nur bei den Haltestellen wurde er ungeduldig; er konnte es nicht erwarten, nach Anaheim zu kommen; am liebsten wäre er durchgefahren. Er sehnte sich außerdem danach, mit seiner Mutter zu sprechen und ihr zu sagen, daß es ihm gut ginge. Wenn sie jetzt bei ihm wäre, könnte er wirklich glücklich sein.
Maggie McGuire saß am Küchentisch und starrte mit leerem Blick auf die Wand. Sie war allein. Mike war zur Arbeit gegangen. Ursprünglich hatte er zu Hause bleiben und auf Neuigkeiten von seinem Sohn warten wollen. Aber in Anbetracht der hohen Geldstrafe, die ihm drohte, hatte er sich widerwillig zu der Einsicht durchgerungen, daß er sich den Verlust auch nur eines einzigen Arbeitstages momentan nicht leisten konnte.
Finanzielle Erwägungen, die jähe Erkenntnis der hoffnungslosen täglichen Misere überschwemmten Maggie wie Brecher, die einen flachen Sandstrand überschwemmen und dann wieder zurückfluten in die namenlose Weite, aus der sie gekommen sind. Ihr Kind war verschwunden, das war das einzige, was zählte. Sie wußte, daß ihr Sohn einen anderen Jungen getötet hatte, und daß er ihr weggenommen und eingesperrt werden würde. Aber wenn sie ihn vorher nur noch einmal, nur eine Minute lang, in den Armen halten durfte, dann, so dachte sie, würde sie so ziemlich allem die Stirn bieten können.
Vor noch nicht mal vierundzwanzig Stunden war er hier bei ihr gewesen, und sie hatte ihn kaum beachtet. Wenn sie sich die Mühe gemacht hätte, ihn richtig anzuschauen, wäre ihr vielleicht seine von dem gräßlichen Revolver ausgebeulte Hosen- oder Jackentasche aufgefallen. Nun, im Schmerz über den Verlust, sagte sie sich, daß sie eine unfähige Mutter gewesen war, die das ihr anvertraute kostbarste Gut nicht hinreichend gehütet hatte. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und fing wieder an zu weinen. Da läutete das Telefon.
Zögernd, ängstlich griff sie nach dem Hörer. »Ja?«
Eine dünne, ferne Stimme sagte: »Hallo, Mammi.«
»Johnny?« Sie umklammerte den Hörer, als könnte sie die Stimme am anderen Ende dadurch näher heranzwingen.
»Ich wollte dir bloß sagen, daß es mir gutgeht.«
Ihre Kehle war so trocken, daß sie kaum zu sprechen vermochte. »Wo bist du, Johnny?«
»Hier, in der Telefonzelle, Mammi.« Ein Schluchzen kam über die Leitung. »Mammi, mein Radio ist kaputt.«
»Ich weiß, Johnny, das macht nichts. Du bekommst ein neues.«
»Ist Daddy sehr böse?«
»Nein. Daddy ist nicht böse. Er weiß, daß du’s nicht kaputtgemacht hast.« Dann wurde sie sich der Lage bewußt, und sie versuchte nachzudenken.
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