Nicht tot genug 14
einem Klemmbrett in der Hand die Station betrat.
Grace ging entschlossen auf sie zu und vertrat ihr den Weg. Auf ihrem Namensschild stand ANGELA MORRIS, OBERSCHWESTER.
»Verzeihung, könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
»Tut mir leid«, sagte sie abweisend. »Ich habe gerade zu tun.«
»Ja, und zwar mit mir.« Wütend hielt er ihr seinen Ausweis vor die Nase.
Sie schaute ihn beunruhigt an. »Was soll das?« Sie sprach jetzt deutlich leiser.
Grace deutete auf Emma-Jane. »Ich gebe Ihnen genau fünf Minuten, um die junge Frau aus diesem stinkenden Loch zu befreien und auf einer Privatstation oder zumindest auf einer reinen Frauenstation unterzubringen. Haben wir uns verstanden?«
Mit wieder gewonnener Selbstsicherheit erwiderte die Oberschwester: »Vielleicht sollten Sie versuchen, ein wenig Verständnis für die Probleme aufzubringen, mit denen wir in diesem Krankenhaus zu kämpfen haben, Detective Superintendent.«
»Diese junge Frau wurde bei einem ausgesprochen mutigen Einsatz verletzt«, verkündete Grace mit hörbarem Unmut. »Sie hat dazu beigetragen, diese Stadt vor einem skrupellosen Verbrecher zu schützen, der jetzt auf seinen Prozess wartet. Außerdem hat sie zwei Menschen das Leben gerettet und beinahe ihr eigenes verloren! Und zur Belohnung legt man sie auf eine gemischte geriatrische Station. Sie wird keine weitere Stunde in diesem Raum verbringen, kapiert?«
Die Schwester schaute sich gereizt um. »Ich werde nachher sehen, was ich tun kann.«
»Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden«, zischte Grace. »Hier gibt es kein später. Sie werden das sofort erledigen. Ich bleibe hier, bis man sie auf eine Station verlegt hat, mit der ich zufrieden bin.« Er zeigte der Oberschwester sein Handy. »Außer natürlich, Sie möchten, dass ich die Fotos, die ich soeben von unserer heldenhaften Kollegin DC Boutwood aufgenommen habe, an den Argus und an sämtliche anderen Tageszeitungen schicke.«
»Hier drinnen sind Handys verboten. Und Sie haben schon gar kein Recht, Fotos zu machen.«
»Und Sie haben kein Recht, meine Mitarbeiterin so zu behandeln. Ich will mit dem Direktor sprechen. SOFORT!«
78
DREISSIG M INUTEN SPÄTER wurde Emma-Jane Boutwood in einen sehr viel moderneren Trakt des Krankenhauses verlegt.
Grace wartete, bis die junge Kollegin in einem sonnigen Privatzimmer mit Blick auf die Dächer von Brighton und den Ärmelkanal untergebracht war, bevor er ihr die Blumen überreichte. Er hatte sich telefonisch vom Klinikleiter versichern lassen, dass sie bis zu ihrer Entlassung in diesem Zimmer bleiben könne. Danach verabschiedete er sich von Emma-Jane.
Im Aufzug nach unten begegnete er einem müde aussehenden jungen Inder, der beim Hereinkommen in einen Powerriegel biss.
Er trug einen grünen Kittel mit grüner Hose, ein Stethoskop um den Hals und ein Namensschild, auf dem DR. RAY SINGH, NOTAUFNAHME zu lesen war. Plötzlich bemerkte er, dass der Arzt ihn neugierig ansah.
»Heiß heute«, sagte Grace höflich.
»Ein wenig zu heiß«, erwiderte der Mann in einem sehr kultivierten Englisch. »Verzeihung, aber Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
Grace hatte ein gutes, bisweilen fotografisches Gedächtnis für Gesichter, doch dieses hier sagte ihm gar nichts. »Ich glaube nicht.«
Der Aufzug hielt an, und Grace trat hinaus, gefolgt von dem jungen Arzt. »Waren Sie nicht heute im Argus abgebildet?«
Grace nickte.
»Deswegen also! Ich habe die Zeitung gerade gelesen. Eigentlich hatte ich sogar daran gedacht, Kontakt zu Ihrem Team aufzunehmen.«
»Ach ja?«, fragte Grace ein wenig zerstreut.
»Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten, aber in der Zeitung stand, dass die Leute wachsam sein und alle verdächtigen Vorgänge melden sollen, nicht wahr?«
»Das stimmt.«
»Nun ja, ich muss vorsichtig sein wegen der Schweigepflicht, aber ich habe gestern einen Mann hier gesehen, bei dem mir nicht ganz wohl war.«
»In welcher Hinsicht?«
Der Arzt schaute in alle Richtungen. »Er verhielt sich reichlich unberechenbar. Beispielsweise hat er die Frau am Empfang angebrüllt.«
Mit Unberechenbarkeit hat das nichts zu tun, dachte Grace bei sich. Vermutlich war in diesem Krankenhaus vielen Leuten danach, jemanden anzubrüllen, und das mit gutem Grund.
»Bei der Untersuchung wirkte er ausgesprochen erregt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe oft mit Patienten mit psychischen Problemen zu tun, aber dieser Mann schien sich in einem Zustand
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