Nicht tot genug 14
Investoren in der Filmbranche kennengelernt, und doch hatte sie das Gefühl, dass sie nur sehr wenig über ihn wusste. Er war überaus zurückhaltend und sprach ungern über sich selbst. Sophie verstand nicht so richtig, womit er sein Geld verdiente, vor allem aber verstand sie nicht, was er vom Leben erwartete – und von ihr.
Er war nett und großzügig und sehr unterhaltsam. Und, wie sie erst kürzlich entdeckt hatte, ein toller Liebhaber! Und doch gab es einen Teil seiner Persönlichkeit, den er vor ihr verbarg.
Und dieser Teil bestritt entschieden, dass er in den frühen Morgenstunden bei ihr gewesen war.
Sie wollte unbedingt erfahren, was mit seiner Frau geschehen war. Kein Wunder, dass der arme Mann völlig verstört war. Vielleicht verdrängte er in seiner großen Trauer, was zwischen ihnen gewesen war.
Sie wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, ihn sein Herz ausschütten lassen. Allmählich nahm ein Plan Gestalt an, noch vage, denn sie war so durcheinander, dass sie nicht klar denken konnte, aber es wäre auf jeden Fall besser, als hilflos hier herumzusitzen.
Die Eigentümer der Firma waren im Sommerurlaub. Im Büro war nicht viel los, sodass sie problemlos früher Schluss machen konnte. Um drei sagte sie ihren Kollegen, sie fühle sich nicht gut, und die beiden empfahlen ihr, nach Hause zu fahren.
Sie bedankte sich, nahm die U-Bahn bis Victoria Station und von dort aus den Zug nach Brighton.
Als sie sich in das stickige Abteil setzte, bemerkte sie nicht den Mann im Jogginganzug mit der dunklen Brille, der direkt hinter ihr hereinkam. Er hielt die rote Plastiktüte aus dem Laden für Erwachsene umklammert und brabbelte lautlos den Text eines alten Songs von Louis Armstrong vor sich hin, den er auf seinem iPod hörte. »We have all the time in the world.«
21
WIE BETÄUBT KEHRTE R OY GRACE in den Autopsieraum zurück. Cleo sah ihn an, als spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er mit nassem Zement gefüllt. Er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was vor seinen Augen ablief. Nadiuska De Sancha sezierte gerade Katie Bishops Hals und legte mit einem Skalpell Schicht um Schicht frei, wobei sie nach Anzeichen innerer Blutungen suchte.
Er wollte nicht hier sein. Er wollte lieber irgendwo allein sein, wo er in Ruhe nachdenken konnte. Sandy.
In München. War es möglich?
Er hatte jahrelang überall nach ihr gesucht. Hatte ihr Foto über Interpol in aller Welt verbreiten lassen. Sogar Hellseher hatte er aufgesucht und tat es immer noch, wenn er von einem neuen ernst zu nehmenden Medium hörte. Keine Spur. Niemand hatte irgendeinen Kontakt zu ihr herstellen können. Es schien, als wäre sie von diesem Planeten verschwunden. Nicht ein einziger Zeuge hatte sich je gemeldet. Bis jetzt.
Dick Pope hatte erzählt, dass er mit seiner Frau auf dem See im Englischen Garten Boot gefahren war. Beide konnten schwören, dass sie Sandy in einem Biergarten hatten sitzen sehen, wo sie fröhlich zu den Klängen einer bayerischen Kapelle mitsang.
Dick berichtete, sie seien sofort ans Ufer gerudert und hätten zu ihr hinüber gerufen. Bis er aber aus dem Boot gestiegen und in den Biergarten gelaufen war, sei sie schon in der Menge verschwunden gewesen.
Natürlich seien er und Lesley sich nicht hundertprozentig sicher. Immerhin sei es über neun Jahre her, seit sie sie zuletzt gesehen hatten. Doch die Ähnlichkeit sei tatsächlich frappierend gewesen. Und die Frau habe zu ihnen herüber geschaut, als würde sie sie erkennen. Warum aber war sie davongelaufen und hatte ein fast volles Bierglas zurückgelassen?
Die Leute, die neben ihr gesessen hatten, beschworen, sie hätten sie noch nie zuvor gesehen.
Sandy trank gern ein Bier an heißen Tagen. Er hatte es geliebt, dass sie auf alles Appetit hatte, auf gutes Essen, Wein, Bier. Und Sex. Sie war eben anders als die Frauen, mit denen er vorher zusammen gewesen war. Sie konnte sich für alles begeistern, was er immer der Tatsache zugeschrieben hatte, dass sie keine hundertprozentige Engländerin war. Ihre Großmutter, die er sehr gern gehabt hatte und die ein echtes Original gewesen war, stammte aus Deutschland. Sie war als jüdischer Flüchtling 1938 nach England gekommen und hatte früher in einem kleinen Dorf bei München gewohnt.
Mein Gott, daran hatte er noch nie gedacht.
War Sandy zu ihren Wurzeln zurückgekehrt?
Sie hatte oft davon gesprochen, nach Deutschland zu reisen. Sie wollte ihre Großmutter sogar überreden,
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