Nicht tot genug 14
konzentrierte sich ganz auf das Standfoto der jungen Frau. Grace erinnerte sich an Vorträge, die er bei den Tagungen der Internationalen Vereinigung der Mordermittler gehört hatte, die meist in den USA stattfanden. Dort berichteten auch Kripobeamte, die in Fällen von Serienmördern ermittelt hatten. Er versuchte, sich an die typischen Merkmale zu erinnern.
Eine Diskussion war ihm ziemlich deutlich im Gedächtnis geblieben. Dabei ging es um die Angst, die Informationen über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Serienmörder in der Umgebung auslösen können. Andererseits hatten die Bürger das Recht, Bescheid zu wissen, sie mussten sogar Bescheid wissen.
Grace wandte sich an DCI Duigan. »Was haben wir bis jetzt?«
»Nadiuska schätzt, dass die junge Frau seit etwa zwei Tagen tot ist.«
»Schon eine Ahnung, wie sie gestorben ist?«
»Ja.« Kim Murphy schaltete die Kamera wieder ein und holte die Kehle in Nahaufnahme heran. Die dunkelrote Strangmarke war sehr deutlich zu erkennen.
Grace spürte, wie ihm flau wurde.
»Genau wie bei Katie Bishop«, bestätigte Kim.
»Also haben wir es mit einem Serienmörder zu tun – was immer das auch heißen mag«, folgerte Grace.
»Ich glaube, es ist noch zu früh, um eine solche Aussage zu treffen«, gab Duigan zu bedenken. »Außerdem bin ich kein Experte auf diesem Gebiet.«
»Damit wären wir schon zwei.«
Grace überlegte. Zwei attraktive Frauen waren auf fast identische Weise innerhalb von vierundzwanzig Stunden getötet worden. »Was wissen wir über sie?«
»Vermutlich haben wir es mit Sophie Harrington zu tun. Sie ist siebenundzwanzig und arbeitete für eine Filmproduktionsfirma in London. Ich bin vorhin ans Telefon gegangen, als eine junge Frau namens Holly Richardson anrief, die sich als Harringtons beste Freundin vorstellte. Sie hat gestern den ganzen Tag über versucht, Sophie zu erreichen. Sie wollten zusammen auf eine Party gehen. Holly hat am Freitagnachmittag gegen fünf zuletzt mit ihr gesprochen.«
»Immerhin etwas«, sagte Grace. »So wissen wir, dass sie um diese Zeit noch am Leben war. Hat schon jemand mit Holly Richardson gesprochen?«
»Nick ist zu ihr gefahren.«
»Ms. Harrington muss sich übrigens ganz schön gewehrt haben«, fügte Duigan hinzu.
»Das können Sie laut sagen.« »Nadiuska hat unter dem Nagel einer großen Zehe ein winziges Stückchen Fleisch gefunden.«
Grace spürte, wie ihn das Adrenalin durchströmte. »Menschliches Fleisch?«
»Glaubt sie jedenfalls.«
»Wäre es denkbar, dass sie ihn beim Kampf mit dem Nagel gekratzt hat?«
»Nicht auszuschließen.«
Und plötzlich erinnerte er sich an die Verletzung an Brian Bishops Hand. Und dass er am Freitagabend für einige Stunden verschwunden war. »Ich will eine DNA-Analyse, und zwar schnell.«
Er griff nach seinem Handy und wählte eine Nummer.
Linda Buckley meldete sich beim zweiten Klingeln.
»Wo ist Bishop?«
»Zum Abendessen bei seinen Schwiegereltern. Sie sind aus Alicante zurück.«
Er bat um die Adresse und rief Branson an.
»Was gibt’s, Oldtimer?«
»Was machst du gerade?«
»Ich esse widerlich gesunde vegetarische Cannelloni aus deiner Tiefkühltruhe, höre deine beschissene Musik und sitze vor deiner antiken Glotze. Mensch, wieso hast du keinen Großbildfernseher wie der Rest der Welt?«
»Stell dir vor, ich kann dich von allen Problemen erlösen. Es gibt Arbeit.« Er nannte ihm die Adresse.
66
DAS SCHWEIGEN WURDE FLÜCHTIG durch das Klirren eines Teelöffels unterbrochen, als Moira Denton in ihrer zierlichen Porzellantasse rührte. Bishop war mit seinen Schwiegereltern nie gut zurechtgekommen, was zum Teil auch daran lag, dass die beiden miteinander nicht zurechtkamen. Er erinnerte sich an einen Ausspruch über Menschen, die ein Leben in stiller Verzweiflung führten. Damit war die Beziehung zwischen Frank und Moira Denton leider nur allzu treffend beschrieben.
Frank war ein Serienunternehmer – und ein Serienversager. Aus familiärer Solidarität hatte Brian etwas Geld in sein letztes Unternehmen investiert: eine Fabrik in Polen, die Weizen zu Biodiesel verarbeiten sollte. Die Sache hatte sich als Flop erwiesen, genau wie alles, was Frank zuvor versucht hatte.
Außerdem war Frank Denton ein Serienehebrecher. Ein groß gewachsener Typ Ende sechzig, der bis vor kurzem viel jünger ausgesehen hatte. Früher hatte er Brian an einen liebenswerten, verwegenen Piraten erinnert, doch als er nun mit hängenden Schultern im Sessel hockte,
Weitere Kostenlose Bücher