Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nicht Totzukriegen

Titel: Nicht Totzukriegen
Autoren: Claus Vaske
Vom Netzwerk:
atemberaubender Blick auf die Bucht von Sestrovo, und der Balkon scheint schwindelerregend frei zwischen Himmel und Meer zu schweben; es duftet nach Pinien, nach Akazien und dann wieder nach wildem Thymian. Ein Traum!
    Und die Küste ist so verdammt steil.
    Am frühen Abend lassen wir uns von Giancarlo in den Ort chauffieren, er rennt nicht nur immer, er fährt auch Auto wie ein Geisteskranker. Trotzdem erreichen wir lebend Sestrovo, wir schlendern an pastellfarbenen Häusern vorbei durch die Gassen, im Schatten der alten Stadtmauer essen wir zu Abend. Ein Tag wie aus dem Prospekt!
    Als wir die Stufen der Stadtmauer hinaufsteigen, dämmert es bereits, unter uns laufen kleine Wellen gegen die Steine, wir hören sie plätschern, hinter uns brummt irgendwo im Gewirr der Gassen eine Vespa. Herrje, ist das kitschig, auf so viel mediterranes Flair war ich nicht vorbereitet, wie soll man da noch einigermaßen cool bleiben? Aber das hab ich mir selbst eingebrockt, ich habe diesen wunderbaren Ort ausgesucht, jetzt kann ich selbst sehen, wie ich damit klarkomme. Allmählich sollte ich mein inneres Programm vielleicht auf Romantikmodus umstellen, schlechte Laune nimmt einem in so einer Umgebung sowieso keiner ab. Wenn ich vor dieser Traumkulisse noch länger meine depressive Verstimmung aufbügele, wird Tom sich, mir und überhaupt sehr bald die Frage aller Fragen stellen: Mädel, was soll der Quatsch?
    Sei keine Zicke, Nicole. Sag einfach, was du fühlst: »Es ist zu schön!«
    »Mmh«, grunzt Tom zur Bestätigung, er steht hinter mir und legt seine Arme um mich, gemeinsam schauen wir auf die See, bald wird die Sonne hinter dem Horizont verschwunden sein. Als ich mich gerade damit arrangiert habe, wie idyllisch es ist, will er schon wieder weg.
    »Taxi oder laufen?«
    Ich dreh mich zu ihm um, er zeigt hoch aufs Kap, wir können von hier aus unser Hotel sehen. Taxi wäre schnell und bequem, der Fußweg hingegen führt so schön nah an der Klippe vorbei.
    Weswegen war ich noch mal hier? »Laufen«, säusel ich.
    Scheißidee. Eine echte Scheißidee. Auf einen etwas anspruchsvolleren Abendspaziergang war ich eingestellt, aber nicht auf eine Abenteuerexpedition. Ich habe nur meine Ballerinas an, und Tom findet erst den Weg nicht, wir irren unterhalb der Stadtmauer herum, bis wir endlich auf das erste Hinweisschild zur Klippe stoßen.
    Zunächst geht es noch halbwegs bequem über ein paar roh in den Fels gehauene Stufen aufwärts. Weiter oben habe ich mir bereits die Ferse aufgescheuert; ich schleppe mich humpelnd über den schmalen Pfad und versuche den kratzigen Büschen auszuweichen, die von der Seite her in ihn hineinwuchern. Die Aussicht hinter mir muss schwer beeindruckend sein, ich weiß es nicht, ich hab davon nichts, ich kann dazu nichts sagen. Tom hält zwar alle paar Meter an, dreht sich um und schaut über mich hinweg auf die Bucht von Sestrovo, aber kaum bin ich bei ihm angekommen und habe kurz Atem geholt, ruft mein Indiana Jones begeistert »Toll!« – und rennt weiter.
    Ich kann nicht mehr. Mir tun die Füße weh, der Weg wird immer steiniger, ich kann kaum noch mithalten. Haben wir uns auch nicht verlaufen?
    Endlich wird es flacher, damit müssten wir schon nah am Hotel sein, die Vegetation zieht sich zurück, und mit einem Mal stehen wir ganz oben auf der Klippe. Tief unter uns rauscht die Brandung, und in der Ferne taucht die Sonne endgültig im Meer ab. Ich halte mich lieber etwas vom Abgrund fern, Tom hingegen tastet sich wagemutig immer weiter an den Rand vor und schaut neugierig hinunter.
    Wie hoch mag das Kap an dieser Stelle sein: Fünfzig Meter? Hundert? Tiefer könnte er kaum stürzen, er könnte gründlicher kaum verschwinden, als von der rauen Dünung des aufgewühlten Meeres verschlungen zu werden, je nach Strömung würde seine Leiche vielleicht nie gefunden. Dann wäre ich ihn ein für alle Mal los, und niemand könnte feststellen, ob er gestolpert ist oder von der Klippe gestoßen wurde, und Yvonne würde bestimmt wochenlang trauern und nur schwarze Strings tragen, und mein Leben wä–
    Vor Toms Füßen kullern die Steinchen bereits den Abhang hinunter. Merkt er gar nicht, in welcher Gefahr er sich befindet? Meine Güte, mir ist schlecht vor Angst, in der Dunkelheit bin ich kaum imstande zu sehen, wo auf dem losen Untergrund ich hintrete. Ich muss genau aufpassen, wo meine Füße Halt finden. Stück für Stück wage ich mich zu Tom vor, ein kleiner Schritt fehlt noch.
    Endlich ist er in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher