Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
Vom Netzwerk:
Angst vor der Angst«, wie man so schön sagt, die ich oft nicht überwinden kann. Ich war in meiner Schulzeit immer die Stille. »Stille Wasser sind tief und schmutzig«, haben meine Klassenkameraden gern zu mir gesagt.
    Dabei wäre ich am liebsten durch Leistung und Talent aufgefallen. Aber sobald jemand mich lobte oder kritisierte, wollte ich immer gleich im Boden versinken. Zum Beispiel hat mich eine Sportlehrerin in der Grundschule dafür gelobt, dass ich in der Turnhalle so leise gehen konnte, dass nur das Knarren der Holzdielen, aber keine Schritte zu hören waren. Ich war einerseits stolz auf das Lob und andererseits beschämt, den Jungs nun als Vorbild angedient zu werden, die alle eine Runde hinter mir herlaufen sollten.
    Schulsport mochte ich ohnehin nicht. Die schweißgeschwängerte Luft im Umkleideraum, die beschämend weißen Käsebeine und meine Unterhosen, die meistens verwaschen waren und aus dem Zehnerpack von C&A stammten – all das machte jede Sportstunde schon vorab zur Qual.
    Manchmal habe ich in meiner eigenen Welt gelebt und mich nicht um die Meinung anderer gekümmert, allerdings nur bis zu dem Moment, in dem jemand etwas zu mir gesagt hat. Einmal wollte ich einen schicken Gymnastikanzug haben, andere in der Klasse hatten so einen. Mein rosa Balletttrikot eignete sich wegen der Rüschen nicht für den Sportunterricht. Aber vielleicht mein pinkfarbener Badeanzug mit dem blauen und dem gelben Streifen auf der Brust. Der, fand ich, sah doch genauso aus wie ein Gymnastikanzug in den Tanzfilmen. Also zog ich ihn zum Sport an. Als ich damit in der Turnhalle aufkreuzte, schallte es sofort aus einer Ecke: »Das ist ja ein Badeanzug!« Ich habe ihn nie wieder zum Sport angezogen.
    In den Schulpausen war ich meistens mit einer meiner Freundinnen zusammen. Im vertrauten Kreis konnte ich vergessen, dass viele Kinder auf dem Schulhof waren, dass ich mich ständig beobachtet fühlte, weil meine Klamotten nicht gut saßen, meine Haare mir fettig erschienen oder meine Stirn wieder angefangen hatte zu glänzen. Ich fühlte mich hässlich. Am hässlichsten immer an dem Tag, an dem der Schulfotograf kam.
    Ich war zu schüchtern, um mit fremden Kindern Gummihopsen oder Springseil zu spielen. Einmal haben mich Kinder abends zum Spielen abgeholt. Es ging ums Versteckspiel. Aber ich kannte die Regeln nicht. Der Abend war für mich wie eine Aufnahmeprüfung. Dabei ist das Spiel ganz einfach. Hat man einen Mitspieler gesehen, rennt man an den Ausgangspunkt zurück und ruft laut dessen Namen. Jeder kennt das. Es gibt nichts zu verstehen, man muss es nur machen. Aber ich kann auch nicht laut rufen. Als ich Andreas hinter der Hauswand sah, habe ich lieber so getan, als sähe ich ihn gar nicht, anstatt zu rennen und laut »Andreas« zu rufen. Ich bin in einer solchen Situation wie paralysiert. Megagehemmt. Nichts ist in dem Moment so schlimm, wie rennen zu müssen und zu schreien. Ich sehe mich lieber verlieren. Ich weiß nicht, wovor ich Angst habe. Dass ich mich nicht rühren kann oder es nicht tue, empfinde ich als Versagen, als großes unverzeihliches Versagen, mit dem ich mir Lebenschancen verbaue. Aber ich kann nicht. Prüfung nicht bestanden.
    Ich bin nicht gern zur Schule gegangen und meine Mutter nicht gern zu Elternabenden. Am ersten Abend erzählte sie von dem Vater meiner Freundin, der für die SPD tätig war, und einer Mutter, die sich in der Arbeiterwohlfahrt engagiere. Die beiden wurden zu Elternsprechern gewählt. Alle anderen sind nach dem Elternabend noch etwas trinken gegangen, für meine Mutter war das nichts. Einmal ging sie mit und fühlte sich dabei wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die zupackende Fröhlichkeit anderer Mütter und Väter blieb ihr fremd. Dabei hatte ich insgeheim gehofft, sie würde dort vielleicht einmal Anschluss, Freunde finden, um irgendwo dazuzugehören. Aber meine Mutter wollte nicht. Sie konnte mit den anderen nichts anfangen und hatte auch kein Geld für solche Aktivitäten.
    Tage, an denen ich nicht zur Schule gehen musste, sondern zu Hause bleiben durfte, weil es mir schlechtging, waren für mich richtige Festtage. Dann konnte ich im Bett bleiben, schlafen und meine Abenteuerromane lesen oder die morgendliche Lesung auf Deutschlandradio Kultur hören. Meine Mutter hat mich liebevoll gepflegt, hat frisches Obst, Gemüsesaft und Cola eingekauft, weil der Kinderarzt gesagt hat, dass ich bei Fieber Cola ohne Kohlensäure trinken könne. Manchmal hat sie mir sogar ein

Weitere Kostenlose Bücher