Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
fremdes Obst erstanden hatte, kam sie damit ins Zimmer und verkündete, wobei sie den Namen der Frucht oft staunend in die Länge zog: »Guck mal, ich habe eine Naaaashi-Birne gekauft!« Und fügte dann ehrfürchtig hinzu: »Aus Israel!« Manche Früchte stehen für Sehnsuchtsorte, die sie nie hat besuchen können, andere einfach für Herkunftsländer, in denen Früchte üppig wachsen, für Sonne, Weite, fruchtbare Landschaften. Über Beelitzer Spargel existieren meines Wissens keine Gedichte. Je weiter weg, je südlicher und exotischer, desto faszinierender sind die Früchte – als kämen sie aus einer anderen Welt, die wir vielleicht nie besuchen werden, aber aus Büchern, dem Fernsehen und der Zeitung kennen. Wenn meine Mutter eine besondere Frucht kauft, will sie mir immer noch ein Stück aufheben, obwohl das für mich nichts so Besonderes ist. Ich esse sie lieber dort, wo sie wachsen, hier schmecken sie mir oft nicht. Aber meine Mutter hat sich so daran gewöhnt, alles, was sie für gut hält, zuerst für mich zur Seite zu legen.
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Fastfood. Wenn wir uns mal etwas Besonderes gönnten, haben wir das geradezu zelebriert. Schon kleine Dinge waren für uns »etwas Besonderes«. So haben wir uns schließlich, nach langem Hin und Her, eines Tages einen Döner geleistet. Dabei haben wir lange debattiert, in welchem Döner-Imbiss wir den holen sollten. Auch die Wahl der Dönerbude kann eine langwierige Entscheidung sein. Wenn der Döner nicht schmeckt, ist die Enttäuschung groß, zumal man nicht jeden Tag einen kaufen kann. So werden die einfachsten Dinge auf einmal sehr kompliziert.
Ich war nie besonders scharf auf McDonald’s oder Burger King. Aber wenn ich einen anstrengenden Tag hatte oder mir etwas gönnen möchte, dann gehe ich einen Cheeseburger essen. In jeder Stadt gibt es einen besonderen Imbiss, in Berlin gehe ich immer nach Kreuzkölln in die Schönleinstraße. Nirgendwo schmeckt mir der Burger so gut wie dort, und fast nirgendwo ist er so billig wie dort. Es ist eine ganz gewöhnliche Imbissbude, oft bin ich die einzige Frau dort, sonst kommen fast ausschließlich Türken, die ihre Bestellungen mit dem Auto abholen, während ich auf meinen Burger warte.
Meine Mutter und ich haben uns im Supermarkt manchmal die weichen Hamburgerbrötchen gekauft, um sie zu Hause mit Gemüse und Käse zu belegen. Meinen ersten richtigen Cheeseburger hat sie mir in Kreuzberg gekauft, als ich noch an ihrer Hand ging. Den gekauften Burger aus dem Papier zu wickeln, das warme, labberige Ding und die Vorfreude auf den Geschmack der sauren Gurke in der Mitte, ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber ich hatte kaum abgebissen, da stolperte ich an der Ampel. Mein kostbarer Burger fiel mir aus der Hand auf die Straße und ich durfte ihn nicht weiteressen. Bis zum nächsten hat es viele Jahre gedauert.
KAPITEL FÜNF
Klassenkampf oder Stille Wasser sind tief
Handelt von Schultüten und Hausaufgaben, von peinlichen, aber auch erhellenden Tagebucheinträgen, von Selbstzweifeln und von der Weigerung meiner Mutter, auf Elternabende zu gehen.
Wenn ich heute meine Tagebücher aus der Schulzeit durchblättere, kriechen gemischte Gefühle in mir hoch: Peinlichkeit, Überraschung und Resignation. Weil darin genauestens dokumentiert ist, wie sehr ich mich nach Aufmerksamkeit gesehnt habe. Und wie sehr ich mich habe mitreißen lassen von dem christlichen Enthusiasmus meiner freievangelischen Kirchengemeinde, voller Hallelujahs und »Jesus ist bei mir«. Peinlich!
Aber meine alten Texte überraschen mich auch, weil sie mir zeigen, dass ich schon mit fünfzehn Jahren in der Lage war, meine Urängste und mein Gefühl ständigen Scheiterns so präzise zu formulieren, dass ich mich heute noch erwischt fühle. Ich bemerke auch, wie sehr ich mich in eine Phantsiewelt wegträumen wollte, Identitätsangebote und Identifikationsfiguren gesucht habe. Teilweise sind das sicherlich normale pubertäre Nöte, und doch kam bei mir noch etwas anderes hinzu. Wie ich andere bewundert habe, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, dass die Souveränität, Schönheit und Unbeschwertheit, um die ich meine Freundinnen so beneidet habe, sich auch den unterschiedlichen finanziellen Lebensumständen verdankten. Ich dachte, die sind einfach so. Der Umkehrschluss musste lauten, dass ich nicht so bin. Ich habe versucht, an mir zu arbeiten, mich zu verbessern.
In vielen Tagebucheinträgen erkenne ich aber auch, dass es damals wie heute noch die
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