Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
meinen Vater. Seit drei Jahren lebt er rollstuhlgerecht. In der Wohnung kann er schlurfend alles selbst erledigen. Nur greifen kann er nicht mehr besonders gut, seine Finger sind steif und taub. Mit verzweifeltem Ehrgeiz stopft er Tabak in Zigarettenhülsen mit einem Gerät, das fünf Stück auf einmal schafft. Seine Brote lässt er sich lieber von den Pflegedienst-Schwestern streichen, die jeden Tag vorbeischauen und ihm mit dem Haushalt und den Einkäufen helfen.
Er war schon vor dem Unfall nicht mehr ganz beweglich, aber seit der Operation ist es schlimmer geworden. Er kann allein zur Toilette gehen, aber tragen darf er fast nichts, und Fahrradfahren und Schwimmen hat sein Körper verlernt. Wenn er rausgeht, wird er schnell müde, über Kraftreserven, auf die er sich verlassen kann und die ihn zur nächsten Bank tragen, verfügt er nicht mehr. Für den Rollator ist er zu eitel, für kurze Strecken nimmt er meist den Stock, für längere, wie den Einkauf, den Rollstuhl.
Tagsüber hockt er die meiste Zeit in der Küche, füllt seinen Zigarettenvorrat auf und trinkt Kaffee. Im Fernsehen guckt er sich gern Dokumentationen an oder Filmklassiker mit deutschen Darstellern, die in seiner Jugend berühmt waren. Oder er sitzt vor dem Computer. Mit der Hand schreibt er kaum mehr, es dauert zu lange. Seine Buchhaltung, mit der er seine Einnahmen kontrolliert und seine Ausgaben kalkuliert, hält er in einer Excel-Tabelle fest. Er hofft darauf, dass das Minus irgendwann langsam abschmilzt, aber jedes Jahr kommt irgendwas dazwischen.
Mein Vater ist ein Leckermäulchen, obwohl er regelmäßig auf seinen gewachsenen Bauch hinweist. Früher hat er immer noch hinzugefügt, dass andere Männer in seinem Alter doch viel schlimmer aussähen. Das ist ungefähr zehn Jahre her. Jetzt bezeichnet er sich als »Tattergreis mit Wampe«. Dabei wollte er noch so viel unternehmen, aber dann kam der Unfall dazwischen. Mit dem Stock mag er partout nicht in ein Café oder abends mal in ein Lokal gehen – abgesehen davon, dass das Geld eh nicht da ist. Hat er insgeheim gehofft, doch noch einmal eine Frau kennenzulernen? So eingeschränkt und schlapp wie er sich seit der Operation fühlt, hält er das für ausgeschlossen. Und nun ist das ohnehin passé, denn demnächst wird er auch noch zum »zahnlosen Greis«. Er trägt schon lange ein Gebiss, aber jetzt müssen auch noch die letzten Zähne raus. Er ekelt sich davor, sich selbst als alten sabbernden und nuschelnden Mann zu sehen.
Seine größte Sorge neben dem Geld ist, dass sein Google Earth seit dem letzten Update nicht mehr richtig läuft. Das Laden dauert ewig. Mein Vater hat schon drei Computerspezialisten beauftragt, den Fehler zu finden, obwohl er sich eine solche Ausgabe eigentlich gar nicht leisten kann. Sie haben ihn alle drei auf dem Problem sitzenlassen. Dabei hängt er an Google Earth. Sehr sogar. Denn damit kann er sich seinen Lebenstraum erfüllen: das Reisen. Er sucht sich eine Tour aus, zum Beispiel nach China, und zoomt sich dann so nah wie möglich an die Straßen heran, nimmt seinen Joystick in die Hand und fährt los. Am liebsten hätte er ein Lenkrad wie für eine Spielkonsole. Als ich ihn einmal mit einem Freund aus Afghanistan besuchte, ist er so lange herumgesurft, bis er schließlich dessen Haus in Kabul gefunden hat. Er hat es mit einer Markierung versehen. Seitdem weiß ich, dass die Häuser in Afghanistan mit großen Innenhöfen ausgestattet sind, in denen sich oft ein Obstgarten befindet und Hühner herumlaufen.
Mein Vater gestaltet diese virtuellen Reisen wie andere ihren Urlaub. Er hält sich an Zugfahrpläne oder Autorouten, er schaut sich unterwegs Gebäude, die Landschaft oder Sehenswürdigkeiten an und schickt eine Unmenge Fotos von Orten, an denen er nie war. Alles aus dem Netz. Vermutlich würde er sich tatsächlich in Moskau oder Istanbul zurechtfinden. Ob er ein Hotelzimmer bekommt, wenn er vorher nicht gebucht hat, lost er aus. Mit einem Spiel, Minesweeper. Verliert er, zieht er weiter. Natürlich führt er eine strenge Reisekasse. Wenn der Computer abstürzt, heißt das, dass sein Auto kaputt ist. Dann rechnet er die Zeit ein, bis die Ersatzteile kommen. Mein Vater lernt viel über die Orte, an denen er »war«. Er hat immer etwas zu berichten. »Erzähl das bloß keinem! Die denken doch, ich spinne«, sagt er selbst über seine Google-Earth-Leidenschaft.
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Mein Vater und ich haben uns wiederholt mehrere Jahre nicht gesehen und nicht miteinander
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