Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
gleichen Windmühlen sind, gegen die ich innerlich kämpfe. Immer geht es dabei um Geringschätzung meiner eigenen Arbeit, um den Wunsch, dazugehören wollen. Dabei war ich, als ich mit 16 Jahren nach Schweden zog, gerade dabei, mich endlich einmal mit meinen Zukunftsplänen zu befassen. Mein Tagebuch hält das eindeutig fest.
Begonnen hat mein Windmühlenkampf schon am ersten Schultag. Für mich war das ein trauriger Tag. Dabei war sogar mein Vater einmal pünktlich gewesen und ich hatte eine richtige Schultüte bekommen – weiß mit grünen Bäumen drauf. Darin steckten zur Feier des Tages Chocolate-Chips, die gab es nur selten bei uns, ein Taschenrechner und das, was sonst so in Schultüten ist, bunte Stifte, eine Federtasche und einige Süßigkeiten. Ich hatte meinen dunkelgrauen Lieblingsjogginganzug angezogen, weil ich mich darin gut und sicher fühlte – bis wir in die Schule kamen und ich die anderen hübsch zurechtgemachten Kinder sah. Ich kannte niemanden auf der neuen Schule, meine Freundinnen waren weit weg in Kreuzberg. Als alles vorbei war, spürte ich nichts als Erleichterung.
Fast wäre ich auf einer Waldorfschule in der Nähe unserer alten Kreuzberger Wohnung gelandet. Die Lehrerinnen dort waren sehr freundlich, als ich den Eignungstest machte, eine Phantasiereise. Das hat mir gefallen. Mein Sandkastenfreund war bereits seit einem Jahr dort. Die Schule hätte mich gern genommen, aber da hatte meine Mutter schon entschieden, dass wir umziehen, die Zusage aus Spandau war früher gekommen.
Auf der Schule hatte ich bald drei Freundinnen. Am häufigsten war ich mit Sabrina zusammen. Die Decken ihrer Altbauwohnung waren höher als die der meisten Wohnungen in Spandau, Sabrinas Zimmer ging ins Wohnzimmer über, wo eine Hängematte hing, im Flur stand die vollständige Sammlung aller Asterix-Hefte, an den Fenstern hingen Traumfänger und es gab viele Dinge aus Dritte-Welt-Läden, aus Ecuador, Guatemala und Peru. Und zum Essen gab es immer Vollkornbrot und Biomilch. Ihre Mutter war eine Anti-AKW-Aktivistin, die eine Volkstanzgruppe leitete und keinen BH trug. Ihre weiten aquamarinblauen T-Shirts boten einen freizügigen Blick auf Achselhaare und einen recht großen Busen. Wenn ich bei Sabrina übernachtete, sah ich, dass ihre Mutter und ihr Freund nackt schliefen. Sie hatten das Durchgangszimmer. Eine beängstigend freie Frau!
Sabrinas Oma und Opa wohnten gegenüber von uns. Sabrina und ich waren nach der Schule oft dort, da gab es Milka-Schokolade und einen Fernseher. Nach der Schule liefen hier Bonanza und McGyver. Im Hof gehörte ihnen ein kleiner Garten und daneben gab es einen Spielplatz, wo wir viel Zeit verbrachten. Fernsehen konnte ich eigentlich nur bei Freunden. Als ich in der vierten Klasse war, wanderte unser Fernseher in den Keller. Er sei kaputt, behauptete meine Mutter, sie habe beim Transport die Rückwand eingedrückt. Richtig geglaubt habe ich das nicht, aber der Fernseher war verschwunden und es machte keinen Sinn, darüber zu lamentieren. Später auf der Oberschule haben mir Klassenkameraden aus Mitleid wiederholt einen ausgedienten Fernseher angeboten. Meine Mutter hat jedes Mal abgelehnt.
Ich habe mich von der ersten Klasse an versteckt. In meinen Zeugnissen stand immer das Gleiche: »Undine ist eine ruhige, in sich gekehrte Schülerin. Sie folgt dem Unterricht mit Interesse.« Dem folgte meist ein Satz, der ungefähr so lautete: »Am Unterrichtsgespräch beteiligt sie sich nur zögernd und nutzt ihre Fähigkeiten nicht genügend.«
Im zweiten Jahr hatten wir eine Hausaufgabe, an die ich mich gut erinnere. Wir sollten uns Dialoge zu einigen Bildern einfallen lassen, die in die leeren Sprechblasen geschrieben wurden. Mir ist nichts eingefallen. Meine Mutter wollte mir helfen, aber ihre Vorschläge klangen in meinen Ohren alle peinlich. Ich wollte weder das Erwartbare schreiben, noch etwas so Besonderes schreiben, dass ich gleich als »anders« auffallen würde. Schließlich schrieb ich etwas, das zu meiner Welt passte, und war ganz zufrieden damit. Aber am nächsten Tag in der Schule schämte ich mich so für meine Dialoge, dass ich mich nicht traute, sie vorzulesen. Ich war mir sicher, dass meine Sätze komisch klangen. Ich habe dann lieber gesagt, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe.
»Du willst alles perfekt machen, das geht aber nicht«, haben mir Bekannte, Lehrer und meine Mutter später oft gesagt. Vielleicht gab es von Anfang an eine Angst zu versagen, »die
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