Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Comic-Heft mitgebracht oder eine neue Hörspielkassette, Huckleberry Finn oder Peter Pan. Die konnte ich auf meinem Kassettenrecorder hören, den mir mal ein Handwerker geschenkt hatte, der unsere Wohnung renovierte. Und einmal hat mir meine Mutter einen Strauß duftender Lilien ans Bett gestellt. Wenn das Fieber hoch war, hat sie mir Wadenwickel gemacht und Waschlappen auf die Stirn gelegt. Nie fühlte ich mich so sicher wie in diesen Stunden.
Ich durfte ab 37 Grad zu Hause bleiben. Meine Mutter, die ehemalige Krankenschwester, nahm es mit diesen Grenzen, die sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte, sehr genau – ich hingegen pochte nur darauf, wenn es um die Schule ging. Zum Ballett oder zur Kirche oder zu einer besonderen Einladung von Freunden ging ich auch mit Fieber. Darüber gab es manchmal Streit. Manchmal aber hat meine Mutter einfach ein Auge zugedrückt und mich gehen lassen. Nicht ohne mir anzudrohen, dass ich dann auch am nächsten Tag in die Schule müsse.
Je älter ich wurde, desto öfter habe ich versucht, zu Hause zu bleiben. Leider hat man in späteren Jahren nur noch selten Fieber. Manchmal, wenn es mir seelisch oder körperlich schlecht ging oder ich einfach extrem mürrisch war, hat meine Mutter nichts gesagt und mir dann einen Entschuldigungszettel geschrieben. »Undine war indisponiert«, stand da. Das kam nicht so oft vor, war aber schon etwas peinlich. Kein Lehrer hat etwas gesagt. Ich war sicher, dass keine andere Mutter ihrem Kind so etwas auf den Entschuldigungszettel schrieb und dass die Lehrer wussten, dass ich einfach geschwänzt hatte.
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Mein größtes Problem während der Schulzeit aber war das Zuspätkommen. Meine Mutter hat mich jeden Morgen geweckt, mein Frühstück gemacht. Immer wenn ich losmusste, begann gerade die morgendliche Lesung von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Ich wollte, solange es ging, der Stimme des Radiosprechers lauschen und auf keinen Fall zu früh zur Schule losgehen. Das hätte ja bedeutet, dort eine Minute länger als nötig zu verbringen. Also kam ich immer in der allerletzten Sekunde, gerade noch rechtzeitig. Irgendwann aber nicht mehr rechtzeitig genug.
Es war ein Dilemma. Eins von diesen, die von außen so einfach zu lösen sind: bloß einige Minuten früher losgehen. Aber in der Praxis stellte sich dieses Vorhaben als undurchführbar heraus. Manchmal war mir meine Dauerverspätung so peinlich, dass ich vor der Tür des Klassenraums stehengeblieben oder gar umgedreht und auf den Friedhof geflüchtet bin. Dort habe ich ein paar Stunden gesessen und auf die Gräber mir unbekannter Menschen geschaut und mir dabei vorgestellt, ich müsste nie zurück, ich könnte immer weitergehen ins Unbekannte. Einmal habe ich meine Sportlehrerin auf dem Friedhof gesehen und mich hinter den Büschen versteckt. Meiner Mutter habe ich es später erzählt. Sie hat mir keine Standpauke gehalten, sondern mich gefragt, warum ich weggelaufen sei. Ich war dankbar für ihr Verständnis, und doch hätte ich mir gewünscht, dass mir jemand zeigt, wie ich mit solchen Ängsten umgehen kann. Eine solche Person aber gab es nicht.
Selbst Jahre später während des Studiums konnte ich meine Ängste in solchen Situationen noch nicht überwinden. Einmal habe ich eine Klausur, für die ich Monate lang gelernt hatte, nicht nachgeschrieben, weil ich fünf Minuten nach Beginn der Klausur vor der Tür stand und die Klinke nicht hinunterdrücken konnte. Ich habe damals lieber einen neuen Kurs besucht und eine Hausarbeit geschrieben, als in diesem Moment meine Feigheit zu überwinden. Dabei hatte ich den ganzen Sommer über gelernt. Das war jedoch das letzte Mal, dass ich vor einer verschlossenen Tür umgedreht bin.
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In der fünften Klasse kam Latein als Plage hinzu. Meine Leistungen schwankten, mal war ich gut, mal sehr schlecht. Deutsch war eins meiner besten Fächer, in Mathe schaffte ich immerhin eine drei, für Latein brachte ich bald keine Begeisterung mehr auf und war zu faul zum Vokabeln lernen. Man konnte die Sprache nicht anwenden, aber meine Klassenlehrerin hatte mich unbedingt für das Fach gewinnen wollen. Ich war eine ihrer Lieblingsschülerinnen und sie traute mir etwas zu und gab sich viel Mühe mit mir. Auf einer Klassenfahrt hat sie mir zum Geburtstag einen Abenteuerroman über einen kleinen Jungen im alten Rom geschenkt. Ich habe mit meinen Klassenkameraden gewettet, dass ich das Buch vor der Ankunft in Berlin ausgelesen haben würde, und die
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