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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Wette mühelos gewonnen. Ich war die schnellste Leserin der Klasse. Ich hatte nie Feinde in der Schule, wurde nie gemobbt, trotzdem fühlte ich mich in der Klasse, im Unterricht und in den Pausen oft wie ein Stück Holz. Stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ging mein Puls hoch und ich fühlte einen enormen Druck auf mir lasten.
    Auf dem Gymnasium missfiel mir der elitäre Stolz, den manche Lehrer predigten: »Ihr seid auf dem besten Gymnasium weit und breit«, sagten sie. Das machte mich bockig. Gleich nebenan war die Realschule. Ich gehöre ohnehin nicht zu den Besten, dachte ich mir, vielleicht sollte ich besser auf die Realschule gehen. Und setzte diesen Entschluss auch gegen meine Mutter durch, die das als Albtraum empfand. Aber der Unterricht dort langweilte mich bald, meine Noten waren auch nicht unbedingt besser und nach einem Jahr wollte ich zurück aufs Gymnasium. Ich kam auf die Gottfried-Keller-Oberschule in Charlottenburg.
    Dort traf ich wieder auf einen Lehrer, der sich bemühte, mich besser in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Herr Hagebutt war sehr groß, sehr dick und sehr rosa im Gesicht. Ich mochte ihn überhaupt nicht. Er unterrichtete Deutsch und wollte ständig mit mir über Bertolt Brecht und Gerhart Hauptmann diskutieren. Die mochte ich auch nicht, obwohl ich mit ihnen mehr anfangen konnte als die meisten in meiner Klasse. Herr Hagebutt hat mich immer wieder davor gewarnt, mich selbst aus der Klasse auszuschließen. Ich könne mit ihm über alle Probleme reden. Ich fühlte mich dadurch angegriffen, machte völlig zu und antwortete nur trotzig: »Was soll schon sein?« Schließlich wusste ich ja selbst nicht genau, warum ich so unzufrieden war. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als ihm etwas von mir zu erzählen. So habe ich damals gedacht.
    Ich fühlte mich nicht »ausgeschlossen«, im Gegenteil: Wer bei mir irgendein Talent zu fördern wusste, wie beispielsweise mein Musiklehrer, hat mich ermutigt. Ich hatte meine Inseln. In der Schülerzeitung gehörte ich bald zur Kernredaktion. Aber eigenständig meine Chancen wahrzunehmen, dazu war ich unfähig. Und Unterstützung bekommt man nur dort, wo man explizit danach fragt. So können viele Dinge das Wesentliche überdecken und davon ablenken. Familienprobleme zum Beispiel. Aber habe ich ein Recht, mich zu beschweren, weil ich nur die Hälfte von dem geleistet habe, was ich hätte leisten können?

KAPITEL SECHS
    Der Träumer
    In dem mein Vater oft zu spät kommt, ich ihm trotzdem eines Tages eine Zigarette anzünde und er nach Moskau und Afghanistan reist, obwohl er sich schon für einen »Tattergreis« hält.
    Mein Vater war der mürrischste Taxifahrer in ganz Berlin, garantiert. Er sei nach dem zweiten Semester Politik an der Freien Universität Berlin »auf der Taxe hängen geblieben«, sagt er. Dabei hasste er den Job. Ich konnte mir nie recht vorstellen, wie er dann überhaupt damit Geld verdienen konnte. Ein Taxifahrer, der andere Menschen nicht mag? Wie soll das gehen? »Immer dieses Gewäsch, das ich mir anhören muss«, meckerte er. »Im Winter erzählen mir die Leute, dass es kalt ist, und im Sommer, dass es warm ist, an verregneten Tagen höre ich: ›Hach, ist das ein Wetter!‹.«
    Vorn bei ihm durfte keiner sitzen. Die Standardfrage der Fahrgäste, wie das Geschäft denn laufe, quittierte er mürrisch: »Über Geschäfte redet man nicht, Geschäfte macht man.« Ansonsten grummelte er so unfreundlich wie möglich vor sich hin, damit die Fahrgäste verstanden: Der hier will nicht reden. Dabei mag mein Vater intelligente Gespräche. Seine besten Fahrgäste der letzen 30 Jahre lassen sich an einer Hand abzählen: ein Geologie-Professor, der meinen Vater mit seinen Kenntnissen die ganze Fahrt lang begeistern konnte, Günter Grass mit Sohn und Sebastian Haffner.
    Aber wer erwartete schon, mit diesem grauhaarigen Wuschelkopf intelligente Gespräche führen zu können? »Das ist meine Form von Protest«, sagt mein Vater immer, wenn man ihn auf seine wirren grauen Locken anspricht, an die er niemanden Hand anlegen lässt. Protest gegen alles, was sein Leben trist macht: Hartz IV, vorenthaltene Chancen und die Erwartungen der Normgesellschaft, zu der er nicht passt. Früher habe ich immer darauf gehofft, seine Locken zu erben.
    Jetzt wohnt er in einer Siedlung am Berliner Stadtrand. Dort gibt es einen Garten, junge Familien, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen wie

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