Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
ist, in dem er Fahrgäste befördern muss. Nach dem Unfall hat er von einer Stiftung ein Auto geschenkt bekommen, in das auch sein Rollstuhl passt. Einmal hat er mich mit dem neuen Auto nach Hause gefahren. Wir haben über meine Mutter gesprochen. Das vermeide ich normalerweise, aber an diesem Abend fühlte es sich richtig an. Und dann sagte er zu mir: »Was du erzählst, ist eine ganz fremde Welt für mich. Ich kenne das nicht, dass man sich so viele Gedanken über Gefühle machen kann. Bei uns redet man nicht darüber.« Für mich war das, als würde er zum ersten Mal meine Welt anerkennen. Und das hat mir viel bedeutet.
Mein Vater und ich führen eine von diesen schwierigen Vater-Tochter-Beziehungen. Mein Vater weiß das. Er spart auch nicht mit Selbstvorwürfen. Die Schuldgefühle haben ihn schon immer daran gehindert, wirklich etwas zu verändern. Das hat sicher mit seiner eigenen Kindheit zu tun.
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Er ist im November 1943 geboren, seine ersten Nächte als Säugling verbringt er im Luftschutzkeller. Seine Mutter konnte ihn nicht versorgen, als Einjähriger war er für anderthalb Jahre im Kinderheim. Er erfuhr früh den Mangel an Geborgenheit. Bei Kriegsende 1945 war er wieder vereint mit Mutter, Großmutter und seinem Vater. Als er drei war, starb der Vater, wieder ein Verlust. In den Kindergärten, in die er geschickt wurde, fühlte er sich fremd. Die Kinderspiele waren für den kleinen »Michi« eine Qual. »Ene mene muh, und raus bist du.« Er fühlte sich sowieso draußen. Von seiner Mutter hat sich ihm vor allem das allmächtige »Aus dir wird doch eh nichts!« ins Gedächtnis gebrannt. Deswegen wird er später die Psychoanalytikerin Alice Miller lesen und bei jeder Gelegenheit aus ihrem »Das Drama des begabten Kindes« zitieren, um zu zeigen, dass seine Mutter mit seinen Fähigkeiten und Talenten nichts anzufangen wusste. Wäre mit etwas mehr Ermutigung vielleicht manches anders geworden?
Seine erste Ausbildung bei der Bahn musste er als Zwanzigjähriger abbrechen, weil er Angstzustände und Depressionen bekam. Der Arzt verordnete ihm Beruhigungsmittel und »viel ausgehen«, damit die Lebenslust geweckt wird. Er wurde monatelang krankgeschrieben. Nach seiner Genesung ging er nicht zurück zur Bahn, sondern jobbte als Hilfsarbeiter und machte später eine Ausbildung zum Industriekaufmann in der DDR.
Mein Vater ist ein offizielles »Stasi-Opfer«. Von 1967 bis 1969 war er als politischer Gefangener inhaftiert. Dabei war er nie wirklich politisch. Er war ein sensibler Träumer und wollte einfach nur in den Westen, in das bunte Lichtermeer der Reklametafeln eintauchen, das er vor der endgültigen Schließung der Grenze vom S-Bahn-Ring aus sehen konnte. Er wollte zeichnen lernen. Seine Mappe habe ich mir als Kind oft angeschaut: Landschaften aus dem Eisenbahnfenster, die seine Sehnsucht nach dem Reisen ausdrücken, und Straßenszenen, in denen ein junges Mädchen im Minirock morgens um fünf vom Club nach Hause geht. Das war für ihn Berlin und der Westen. Dort gab es für solche wie ihn, die im Osten nicht ins Schema passten, noch Hoffnung. Aber er zögerte zu lange. 1961 stand er als Sechzehnjähriger auf der Friedrichstraße vor der Mauer, die gerade gebaut wurde. Da gab es jene Sekunden, in denen er über den Zaun hätte springen können. Während er noch mit sich rang, wurde er von einem Volkspolizisten verscheucht und die Chance war verstrichen.
Sechs Jahre später versteckte er sich unter einer Sitzbank, um sich im Zug von Budapest nach Wien über die Grenze zu schmuggeln. Der Versuch misslang. Er kam ins Gefängnis. Nachdem er aus der Haft entlassen worden war, hat er nicht gleich einen Ausreiseantrag gestellt, sondern gejobbt. Der Traum vom Westen war etwas blasser geworden. Als dann 1975 sein Antrag genehmigt wurde, war er schon nicht mehr so zuversichtlich. Ab 1977 durfte er nicht mehr in den Osten einreisen.
Eine Zeitlang sah es gut für ihn aus. Er machte das Abitur am Berlin Kolleg nach, um zu studieren. Aber für mehr reichte die Energie dann nicht. 1977 im Winter bekam er wieder Angstzustände und ging für einen Monat in eine Nervenklinik. Das Jahr danach war für ihn ein hartes Jahr, sagt er. In ebendiesem Jahr hat er meine Mutter getroffen.
Als ich zwei Jahre alt war, hat er einen Neuanfang versucht, er fuhr zur See. Die See ist bis heute seine Leidenschaft. Sein alter Seesack steht noch immer in einer Ecke seiner Wohnung. Zweimal hat er auf einem Schiff angeheuert. Das erste Mal ist
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