Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
gesprochen. Das erste Mal, als ich etwa fünfzehn war. Er hatte meine starke Bindung zu einer Berliner Freikirche kritisiert. Das tat meine Mutter zwar auch, aber bei meinem Vater hatte ich vorher meine Ruhe gehabt, er hatte sich nie in das, was ich tat, eingemischt. Und dann das! Länger als ein Jahr sahen wir uns nicht. Mit sechzehn ging ich dann für drei Jahre nach Schweden und damit kam der Kontakt vorübergehend fast vollständig zum Erliegen.
Das zweite Mal stritten wir uns, als ich schon Mitte zwanzig war. Er hatte mir helfen wollen. Meine Vögel mussten zum Tierarzt, ich brauchte ein Auto, musste zur Arbeit und wollte mir 20 Euro von ihm leihen. Es gab Theater wegen des Geldes, ich war ohnehin schon zu spät dran, die Straßen waren verstopft und meiner Meinung nach fuhr mein Vater, der doch Taxifahrer war, die denkbar ungünstigste Strecke vom Alexanderplatz zum Kurfürstendamm. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, über meine schlechte Planung, über den Verkehr, über meine Drohung, auszusteigen und die U-Bahn zu nehmen, und dann kamen auch noch alte Geschichten hinzu. Ich wollte mich nicht beschimpfen lassen und habe alles, was mein Vater in dieser Situation sagte, als persönliche Kritik aufgefasst. Nach diesem Tag haben wir wieder über ein Jahr lang kaum miteinander geredet. Es gab einfach nichts zu sagen. Bis eines Tages wiederholt eine unbekannte Nummer auf meinem Handy auftauchte. Eigentlich rufe ich in solchen Fällen nicht zurück, tat es diesmal aber doch. Niemand meldete sich. Fünf Tage später war die Nummer wieder mehrfach auf meinem Display zu erkennen.
Ich rief zurück und erreichte meinen Cousin Markus, den ich bisher nur einmal in meinem Leben gesehen hatte. Schön, dass ich zurückriefe, sagte er, mein Vater liege seit knapp einer Woche im Krankenhaus, er sei an den Halswirbeln operiert worden. Man hätte versucht, mich zu erreichen, denn mein Vater könne sein Handy nicht selbst bedienen. Ich war aufgebracht, sorgte mich um meinen Vater und war wütend auf seine Familie. Mein Vater hatte die Telefonnummer von meinem Arbeitsplatz, er hätte seiner Familie meine Adresse sagen oder jemand hätte meine Mutter kontaktieren können. Aber niemand hatte auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, niemand eine SMS geschickt. Mein Cousin reagierte gekränkt auf meinen Vorwurf und tat am Telefon so, als sei nichts Besonderes passiert. »Es geht ihm ganz gut«, meinte er. Dabei hätte mein Vater in diesen Tagen sterben können. Vermutlich hätte seine Familie mir dann eine Einladung zur Beerdigung geschickt und mir bedauernd mitgeteilt, dass sie mich eben nicht eher erreicht hätte. »Das ist doch mein Vater und der Einzige, den ich habe«, dachte ich. Ich hatte zum ersten Mal Angst um ihn.
Ich raste ins Klinikum Steglitz, ohne genau zu wissen, was mich erwartete. Würde mein Vater sich überhaupt freuen, mich zu sehen? War ihm seine Familie nicht vielleicht viel näher als ich, die Tochter, das Nebenprodukt eines gescheiterten Eheversuchs? Ich zweifelte bis zur Tür des Krankenzimmers. Mein Vater lag im Bett, und als er mich sah, kamen ihm die Tränen. Sein Blick sagte alles, was er mir, seiner einzigen Tochter, nie hatte sagen können. Gefühle, besonders Zuneigung, auszudrücken gehört einfach nicht zu seinem Repertoire. In dem Moment habe ich verstanden, wie wichtig ich für ihn bin. Er konnte nicht allein aufstehen, er brauchte plötzlich meine Hilfe, er war der Schwache, der Dankbare, ich die Starke. Das war befreiend für uns beide. Seitdem sind wir Verbündete. Ich habe ihm im Krankenhaus die erste heimliche Zigarette auf dem Treppenhausflur angezündet. Er nahm einen tiefen Zug. Das war sein erster Ausflug aus dem Krankenbett. Ich habe ihm damals einen kleinen Stoffstern mit einem Gedicht ans Bett gebracht, weil er an dem Abend, an dem er gestürzt ist, in die Sterne gucken wollte. Mein Stern liegt bis heute neben seinem Bett.
Mein Vater hat Glück gehabt. Ich war dabei, als die Ärzte ihm sagten, dass es unsicher ist, ob er wieder laufen kann. Ich habe gesehen, wie viel Kraft er aufbringen musste, um ein paar wenig hoffnungsvolle Schritte mit Hilfe eines Stehpults zu versuchen. Und ich war dabei, als er zwei Wochen später doch die Treppen der Klinik unermüdlich auf- und abkraxelte.
Inzwischen kann er sogar wieder Auto fahren. Zumindest mit einer Automatikschaltung. Sein linker Fuß zittert manchmal, so dass er keine Kupplung treten kann. Er liebt das Autofahren, wenn es nicht das Taxi
Weitere Kostenlose Bücher