Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
er ein Jahr geblieben. Er hätte sich mehr Zeit geben müssen, vielleicht hätte es ein Jahr später mit einem Ausbildungsplatz geklappt. Aber er war ungeduldig und kehrte zurück nach Berlin, um Taxi zu fahren und es noch einmal mit dem Studium zu probieren.
Das zweite Mal hat er auf der »Lisa Heeren« von der Reederei Heeren angeheuert. Dort gab es Unstimmigkeiten, mein Vater verließ das Schiff – eine Entscheidung, die er bis heute bereut. Irgendwann möchte ich ihm eine Kreuzfahrt schenken vorbei an den Scheren von Oslo, Fensterkabine, »etwas anderes kommt nicht in Frage«, muffelt er vorsorglich. Diese Tour ist er schon einmal als Decksmann gefahren. Er hat mir ein Bild von einer seiner Reisen gemalt: die Sicht auf die Lichter von Jeddah in der Dämmerung, als sie an der Küste von Saudi-Arabien vor Anker lagen. Es ist so groß wie eine Postkarte und hängt über meinem Schreibtisch.
Dann hat mein Vater versucht, sich mit einem Kurierdienst selbständig zu machen. »Ein Traumjob«, meinte er. Er besuchte das Gründerseminar der Agentur für Arbeit, ließ sein Auto teuer umbauen, damit er Aufträge über Funk annehmen konnte – und dann kamen keine.
Mein Vater hat eine lange Reise hinter sich, er war Eisenbahner, Monteur, Kurier, Bürohilfskraft, Zementhilfsarbeiter, Lagerarbeiter, Werbehilfskraft, Lagergruppenleiter, Wachmann, Decksmann, Student, seit 1982 dann Taxifahrer und seit 2005 ist er »Kunde« des Jobcenters.
Die Jahre, nachdem ich in sein Leben gekommen war, müssen für ihn alle ähnlich ausgesehen haben; Taxi fahren, übers Taxigeschäft schimpfen, sich aufraffen wollen, aber es nicht schaffen. Bier trinken, in Kneipen sitzen und dem Leben nachtrauern. Eine Weile hat er in Kneipen Karaoke gesungen, Gitarrenunterricht genommen und davon geträumt, Musiker zu werden. Das Keyboard, das er sich kaufte, bekam ich später zum Üben, immer mit der Auflage, es möglicherweise zurückgeben zu müssen. »Falls ich es doch noch mal schaffe«, sagte er. Er hatte viele Träume.
Genau wie mein Vater hat meine Mutter ihren eigenen Vater nie kennengelernt. Als sich meine Eltern trennten, entschied sie, dass ich meinen Vater kennen sollte. Ich erinnere mich an zwei oder drei laute Streitereien, wenn er uns besuchen kam. Damals war ich zwei oder drei Jahre alt. Danach hörten die Streitereien auf. Meine Eltern haben sich dann höflich und förmlich behandelt und eigentlich nicht wieder angeschrien. Mein Vater kam und holte mich ab. Oder er kam eben nicht. Oder er kam viel zu spät.
Ich habe mich gefragt, ob er jemals nachempfinden oder sich vorstellen konnte, wie es für mich war, wenn ich auf ihn wartete. Sich über die erste Stunde zu bringen war noch einfach. Meine Mutter ermunterte mich, weiterzuspielen, dann käme auch mein Vater schneller. Die zweite Stunde war ich dann schon missmutig und in der dritten hing ich nur noch am Fenster, beobachtete jedes Auto, aber kein Taxi war dabei. Manchmal kam ein Anruf, dass er es nicht schaffe, dass es ihm nicht gutginge. Oder er kam sehr spät, saß noch eine Weile im Auto und machte eine Abrechnung, während ich am Fenster stand, um ja nichts zu verpassen. Ich wusste genau, wann ich den Türöffner drücken musste, um ihm aufzumachen, noch bevor er klingeln konnte. Manchmal hatte ich mir einen Satz überlegt oder einen Witz vorbereitet, den ich in irgendeinem Roman gelesen hatte. Den trug ich seit Stunden auf der Zunge und wollte ihn gleich, wenn mein Vater zur Tür hereinkam, anbringen. Meistens habe ich dabei die Pointe verpatzt.
Als ich groß genug war, um allein die U-Bahn zu nehmen, bin ich von Spandau nach Steglitz zu ihm gefahren. Meine Reisetasche für das Wochenende war immer sehr schwer. Denn bei meinem Vater gab es nichts von mir. An solchen Tagen war er oft müde. Manchmal trank er ein Bier aus der Dose. Wir spielten mit meinen Kuscheltieren und Figuren oder hörten Musik. Ich spielte gerne mit meinem Vater, wenn er gut drauf war, ließ er sich ganz auf die Spielwelt ein. Dann hatte er gute Ideen und spann kleine Geschichten um die Figuren. Aber immer öfter war er unkonzentriert, schlapp und müde.
Am Ende dieser Besuchstage hat er mich oft mit dem Taxi noch irgendwohin chauffiert, sonntags in den Gottesdienst, zu Freunden oder nach Hause zu meiner Mutter. Das war immer etwas Besonderes. Ich wollte dann nie ankommen. Mich mit dem Auto zu fahren, mit mir ins Café zu gehen oder mir einige Euromünzen zuzustecken war seine Art, Zuneigung
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