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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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dabei, mit der wir einige Rosenstängel von den Beeten neben dem Sandkasten abknipsten. Allein die Spannung machte diesen Strauß wertvoller als jeden, den man hätte kaufen können. Es fühlte sich an, als dürften wir das tun, weil wir keine Rosen kaufen konnten und weil ich genau diese Rosen im Park so sehr mochte. Niemand hat uns aufgehalten oder erwischt. Ich steckte meine Nase in die Blüten und atmete den Duft ein, bis die dünne Haut der Blütenblätter sich an die Nasenlöcher saugte. Und am nächsten Morgen fand ich meine Geschenke auf einem kleinen Tisch, den meine Mutter mit einem Tuch bedeckt hatte, das von bunten metallisch glänzenden Fäden durchzogen war. In der Mitte thronte der üppige Rosenstrauß. Ich fühlte mich seinen Blüten so nahe wie Ida aus dem Märchen »Die Blumen der kleinen Ida« von Hans Christian Andersen, das mir meine Mutter ab und zu vorlas.
    Auf den Geburtstagen meiner Freunde war mir meist unbehaglich zumute. Plötzlich waren da lauter fremde Kinder in den Räumen, die mir eigentlich so vertraut waren. Freunde meiner Freunde, denen ich sonst nicht begegnete. Und als es Mode wurde, alles in bewegten Bildern festzuhalten, fingen die Eltern auch noch an, Kameras zu kaufen und alles zu filmen: Da wäre ich am liebsten gleich wieder gegangen. Andere Kinder machen Faxen oder reden ununterbrochen vor der Kamera. Ich stehe ganz still und rühre mich nicht. Diese Taktik des Unsichtbarmachens beherrsche ich immer noch fast bis zur Vollkommenheit.
    Der Geburtstagsmorgen mit meiner Mutter war immer etwas Besonderes. An einem frühen Herbstmorgen riecht die Luft im Zimmer so besonders, vor allem, wenn man eine Kerze in der Morgendämmerung anzündet. Meine Mutter hat mich immer mit einer Kerze geweckt und mir etwas ans Bett gebracht, einen Kakao, einen Tee, ein Stück Kuchen. Sie hat mich mit kleinen liebevollen Gesten beschenkt, die mir mehr bedeuten als teure Geschenke. Geschenke spielten eigentlich eine untergeordnete Rolle an diesem Tag, und das hatte auch einen besonderen Grund.
    Oft waren sie keine Überraschung mehr. Meistens hatten wir schon Monate vorher etwas gefunden, das wir unbedingt haben wollten, Bücher oder Schuhe, ein Kuscheltier. Wenn ich es mit meiner Mutter entdeckt hatte und es eigentlich zu teuer war, aber es sich so anfühlte, als müsste ich es doch unbedingt haben, dann suchten wir nach einem Grund, der den Kauf legitimierte. Den sofortigen Kauf. Denn man war nun einmal dort, und Dinge, die es heute gab, konnten morgen weg sein oder teurer werden. Ein Zögern barg außerdem die Gefahr, dass die ohnehin mühsam getroffene Entscheidung wieder in Frage gestellt wurde oder praktische Hindernisse die genaue Kalkulation von Zeit, Geld und Kräften unrentabel machten.
    Wenn also etwas »Großes« oder ein »Kauf außer der Reihe« fällig wurde – etwas, das unsere Verhältnisse überstieg –, dann kamen uns die Feiertage zu Hilfe. Wir haben sie gedanklich einfach vorverlegt und uns so im Sommer Möbel von IKEA »zu Weihnachten« geschenkt. Im Frühjahr fand sich vielleicht genau das richtige Geburtstagsgeschenk für mich. Meistens haben wir die Dinge dann zu Hause nicht bis zum Stichtag aufgehoben, sondern gleich benutzt. Oft war es auch etwas, das wir gleich brauchten. Es gab dann die Verabredung, dass es dafür zum entsprechenden kalendarischen Feiertag kein Geschenk gibt. Aber es gab immer etwas Kleines. Manchmal auch Bücher, die ich schon aus dem Regal meiner Mutter kannte, sozusagen eine nachdrückliche Leseempfehlung.
    Der Kauf eines sehnlich gewünschten Objekts war etwas Feierliches. Manchmal anstrengend »wie ein Kampf«, sagt meine Mutter. Dafür entschädigte dann das Siegesgefühl, wenn wir unsere Trophäe zu Hause auspacken konnten. Allerdings tauchte oft bis zum tatsächlichen Geburtstag ein neues starkes Bedürfnis oder ein Sehnsuchtsgegenstand auf, für den wir dann eine weitere Rechtfertigung finden mussten, wenn es unmöglich schien zu verzichten. So kam es in einem Jahr schon mal vor, dass wir uns im Sommer bereits bis Ostern des nächsten Jahres beschenkt hatten. Das war aber eine Ausnahme. Meine Mutter und ich beschenken uns bis heute nach diesem Lustprinzip.
    Später hat es mich manchmal geärgert, dass meine Mutter Bücher, die ihr eigentlich selbst sehr wichtig waren, an Freunde oder Bekannte zum Geburtstag verschenkte oder auch nur, um jemandem ihre besondere Zuneigung zu zeigen. Auch meinen Freunden hat sie schon Bücher aus unserer Sammlung

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