Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
nicht weiß, worüber ich schreiben sollte, ich notiere, wer mich angerufen hat oder auf wessen Anruf ich vergeblich gewartet habe. Ich habe permanent Verlustangst, wenn ich mich jemandem nähere. Ständig denke ich, dass mich die Menschen nicht mögen. Jede Freundlichkeit und jedes Kompliment halte ich fest und leide darunter, dass ich mich doch immer als Außenseiterin fühle.
Nur ein von mir festgehaltener Dialog verrät etwas darüber, dass auch der Geldmangel und die Arbeitslosigkeit meiner Mutter einen Anteil an unseren Streitereien haben. Es ist ein gehässiger Dialog, aber er zeigt, wie wenig ich gewillt war, meine Mutter trotz ihrer Bemühungen als Lotsen und Vorbild zu respektieren und wie schwer es ihr fiel, sich gegen meine Ablehnung zu wehren. Und immer wieder taucht in meinen Tagebüchern der Wunsch auf, wegzugehen. Darüber aber will meine Mutter nicht mit mir diskutieren.
9. 4. 1996
Mama, ist es nicht ziemlich langweilig, wenn man den ganzen Tag nur liest, schläft, isst, ab und zu Fernsehen guckt, sonst aber nichts macht und nur zu Hause ist?
Mama: Probier es aus, dann weißt du es.
Mir wäre das zu langweilig, dir nicht, Mama?
Mama: Sei still!
Was würdest du sagen, wenn ich wegginge?
Mama: Darüber rede ich nicht.
In meinem Alltag scheine ich immer woanders sein zu wollen. Ich suche jede Gelegenheit, Zeit in Gesellschaft anderer zu verbringen. Ich bin mit der Jugendgruppe, mit Freunden unterwegs, beim Musikunterricht oder in der Ballettstunde. Für alles und jeden fahre ich einmal quer durch die Stadt, nach Kreuzberg, Charlottenburg, Lichterfelde. Ich gehe nicht einmal mehr in Spandau zur Schule. Ich stehe früh auf, um meine Hausaufgaben zu machen, abends habe ich keine Lust dazu. Einmal streite ich mich mit einem Lehrer, der mir vorwirft, ich würde nicht auf Klassenfahrt mitfahren wollen. Ich sage ihm, ich hätte das Geld nicht. Er erwidert, das hätte man aufbringen können. In meinem Tagebuch bezweifle ich, dass meine Klasse dazu bereit gewesen wäre. Eine Klassenkameradin stimmt mir zu, man habe schließlich seinen Stolz. Meine Mutter ist bei diesen Vorkommnissen längst nur noch Zuschauerin.
Wir streiten fast jeden Tag. »Geh doch zu einer anderen Familie«, hat sie mir einmal im Zorn an den Kopf geworfen. Ich kann den Satz nicht vergessen, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht wirklich loswerden will. Einmal wohne ich vier Wochen bei einer Freundin. Dank ihres Vaters schreibe ich meine erste Eins in Mathe. Als sich über das Angebot von Bekannten eine Gelegenheit dazu ergibt, fasse ich den Entschluss, nach Schweden zu gehen. Auch darüber wird meine Mutter nur informiert. Zustimmen will sie nicht, aber ich kann sie dazu überreden, dass sie es mir nicht verbietet. Sie geht zusammen mit mir alles Notwendige dafür einkaufen. Über das Kindergeld lässt sie mich selbst verfügen. Aber sie ist unglücklich und – mal wieder – ohnmächtig gegenüber meiner Willensstärke und meinem Drang, die gemeinsame Wohnung um jeden Preis zu verlassen. Damit gehen auch ihre letzen Träume von einer starken Beziehung zu mir, ihrer einzigen Tochter, kaputt. Sie bleibt zurück, einsamer als zuvor.
Dabei war sie immer der wichtigste Mensch in meinem Leben. Jedes ihrer Worte wiegt Tonnen in meinem Herzen. Aber unsere Beziehung war ungleich. Sogar mein Vater hat beobachtet, dass ich schon als Schulkind mehr mit meiner Mutter schimpfte als sie mit mir. Mehr als einmal schreibe ich meiner Mutter aus Schweden und muss es ihr auch später immer wieder sagen, dass sie sich nicht dauernd für irgendwelche Briefe an mich entschuldigen soll. Wenn ich nicht auf ihre Überlegungen oder Fragen antworte, fragt sie immer wieder, ob es ein Fehler war, diesen oder jenen Brief zu schicken, dies oder jenes zu schreiben.
Ich bin seit meinem ersten Lebensjahr mit meiner Mutter allein aufgewachsen. Alles, was sie betrifft, ihre Entwicklung und ihr Wohlempfinden, ihre Erfolge und Misserfolge beeinflussen mich, ob ich mich dagegen wehre oder nicht – die vielen starken Seiten ihres Charakters, die bis heute mein Ideal von einem guten ehrlichen Menschen prägen, wie die schwachen, ohnmächtigen und verzweifelten Momente, die vor allem mein Selbstbild bestimmen. Diese Zusammenhänge zu erkennen hat mich Jahre gekostet. Und viele Gespräche mit meiner Mutter. Am Ende ist es mir doch gelungen, sie davon zu überzeugen, dass ich sie als meine Mutter liebe. Dass unsere Tochter-Mutter-Beziehung, egal wo ich bin, nicht
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