Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Die beiden Mädchen kamen für zwei Jahre ins Heim. Im Hotel lernte meine Oma den Norweger und Pumpmeister zur See Bengt Ole Henrik Hakonsen kennen. Er war es, der die beiden Mädchen aus dem Heim nach Hause holte. Oma war wieder schwanger. Als die beiden neuen Geschwister da waren, durften meine Mutter und ihre Schwester zuerst nicht mit auf das Familienfoto. Was hätte denn die Familie des Mannes in Norwegen denken sollen, wenn sie sahen, dass seine Frau zwei Kinder mit in die Ehe brachte? Es war 1953.
Meine Mutter hat nur liebevolle Erinnerungen an die Zeiten, wenn der Stiefvater zu Hause war. Vielleicht hätte er sie adoptiert, aber er starb 1962 in Bangkok an einem Herzinfarkt. In Emden lebten fünf Leute von einer kleinen Witwenrente für drei Personen. Es gibt einige wenige Fotos. Auf einem Bild sieht man meine Mutter an der Hand des Stiefvaters, das war ein wichtiger Moment für sie. Meine Mutter besuchte in Emden die Volksschule, wurde danach Schwesternschülerin des Deutschen Roten Kreuzes in Bremen und bestand 1972 ihr Examen als Krankenschwester.
Sie musste sehr sparsam leben, Sparsamkeit war sie gewöhnt, und gelernt hat sie immer gern. Aber schon bei ihrer ersten Anstellung als Krankenschwester im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg bestätigte sich, was sich schon während der Lehrzeit angedeutet hatte: dass sie den Anforderungen ihres Berufs körperlich nicht gewachsen war. Ein Jahr später machte sie auf der Berufsfachschule Emden ihre mittlere Reife nach. Ihre Deutschlehrerin ermutigte sie, das Abitur anzustreben. Meine Mutter träumte davon, Literatur und Philosophie zu studieren, in eine intellektuelle Welt einzutauchen, wo sie alle ihre existenziellen Fragen stellen durfte.
Über diese Zeit notierte sie: »1974, ich bin 23 Jahre, lese Honoré de Balzac, identifiziere mich mit seinen jugendlichen Gecken, die aus der Provinz nach Paris gehen, um Literaten zu werden: Sie (und ich) wollen mit Röntgenaugen das Leben und alle seine Erscheinungen erfassen, sie und ich fühlen uns absolut klassenlos, über alle Klassenkategorien erhaben, wir sind unabhängige Geist-Seelen. «
Nach der mittleren Reife geht sie ans Berlin-Kolleg, sie will Abitur machen. Ihre Geschwister finden es mutig, dass sie sich in diese große Stadt wagt. Für sie selbst ist es eine hoffnungsvolle Zeit. Sie fühlt sich stärker als zuvor. Ihre langen glatten Haare färbt sie mit Henna und legt sich eine Dauerwelle zu. Auf Bildern guckt sie meistens ernst, aber wenn sie lacht, sieht man ihre schönen Zähne, die Augen glänzen und die kindliche Rundung der Wangen tritt hervor.
In Berlin kennt sie niemanden, auch in den Kursen fühlt sie sich fremd. Sie sitzt in ihrem Zimmer, möchte aus der Enge der Wände ausbrechen, ist aber zu schüchtern, um einfach die Treppen hinunterzugehen, sich ins Getümmel zu stürzen und treiben zu lassen.
Nach einem Jahr trifft sie jemanden im Kolleg, der ebenso schüchtern ist wie sie. Sie überlegt, ihn anzusprechen. Er kommt ihr zuvor. Es ist mein Vater. Als meine Mutter ein paar Monate später ungeplant, aber nicht ungewollt schwanger wird, unterbricht sie das Abitur. Als ich da bin, soll mein Vater mich versorgen, wenn sie in der Schule ist. Sie pumpt Milch ab, bereitet alles vor. Meinem Vater wächst die Verantwortung für die Familie über den Kopf. Er wird wieder depressiv und macht meiner Mutter ungerechtfertigte Vorwürfe. Meine Mutter hat niemanden, der verlässlich auf das Kind aufpasst, damit sie zur Schule gehen kann. Zu Hause kann sie sich nicht gut auf die Hausaufgaben konzentrieren. Dann erfährt sie, dass man sie falsch eingestuft hat und sie ein Jahr wiederholen muss. Sie gibt auf, beantragt Sozialhilfe und eine Wohnung für sich und mich allein. Sie beginnt eine Therapie.
Als ich drei bin und in den Kindergarten gehe, macht sie eine Weiterbildung zur Laborassistentin. Sechs Monate lang bin ich von 6 bis 18 Uhr im Kindergarten. Wenn sie mich abholt, ist sie, hin und zurück, Stunden unterwegs. Dann muss sie mich noch versorgen und Hausaufgaben machen. Nach einem halben Jahr kann sie nicht mehr, sie kommt nicht durch die Prüfung, sie bricht ab.
Zu meiner Einschulung ziehen wir in einen anderen Bezirk, nach Spandau. Meine Mutter sagt, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, nichts lesen. Ihr Versagen belastet sie schwer. Sie schreibt alle Krankenhäuser im Umkreis an, aber eine Teilzeitstelle als Krankenschwester gibt es nicht. Schichtdienst oder kein Dienst, lautet die
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