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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Antwort.
    Während ich in der Schule bin, geht sie stundenlang spazieren, hört Opern, die ihr ein Bekannter meines Vaters auf Schallplatten ausleiht, Verdi, Puccini, Schumann-Lieder. Ein schwedischer Tenor hat es ihr mit seiner Stimme besonders angetan: Jussi Björling. An der Oper in Stockholm liegen seine Bücher und Aufnahmen heute noch im Schaufenster aus, obwohl er schon 1960 gestorben ist. Seine Witwe hat seine Biographie geschrieben.
    Meine Mutter bekommt das Buch auf Schwedisch in die Hände. Sie fängt an, es zu übersetzen, Satz für Satz, mit Hilfe eines deutsch-schwedischen Wörterbuchs. Sie schreibt die Seiten erst per Hand, dann tippt sie die Blätter auf einer Schreibmaschine ab, die wir uns zusammen gekauft haben. Die Maschine thront auf dem Saunatisch, der billigste, den IKEA damals im Programm hatte. Er hat nicht einmal eine durchgehende Platte und steht vor dem Fenster mit den selbstgestrickten Gardinen.
    Die Arbeit an dem Buch beschäftigt meine Mutter drei Jahre lang. Sie schickt es an einen Verlag, aber meine Mutter ist keine professionelle Übersetzerin. Zu oft bleibt sie zu nah am schwedischen Satzbau. Sie lässt das einzige Originalmanuskript an den Sender Freies Berlin weiterleiten und erhält einen Dankesbrief vom Chefredakteur persönlich. Er war auch ein Jussi-Björling-Fan. Bis heute ist das Buch nicht auf Deutsch erschienen. Aber danach hat meine Mutter ihre Konzentrationsschwäche überwunden und liest alles, was sie in die Finger kriegt. Wir gehen regelmäßig in die Bibliothek, ich wegen der Krimis und Comics, meine Mutter wegen der Weltliteratur.
    *
    Ab 1997 wird meine Mutter vom Sozialamt zum gemeinnützigen Dienst vermittelt. 2001 bis 2004 arbeitet sie mit Unterbrechung als Bürohilfe im Jugendamt Spandau, die Arbeit macht ihr Spaß. Und sie macht sie gut. Aber sie ist nur MAE-Kraft, Mehraufwandsentschädigung. Man hätte ihre ständige Unterstützung schon brauchen können, aber auf dem Amt herrscht Einstellungsstopp. Man darf ihr keine richtige Stelle anbieten, und so endet auch dieses Arbeitsverhältnis. Mit ihrer ehemaligen Chefin hält sie lose Kontakt. Manchmal bügelt meine Mutter in einer Wäscherei oder verdient ein paar D-Mark als Haushaltshilfe bei einer befreundeten Familie. 2001 macht sie eine zweijährige Weiterbildung zur Medizinischen Schreibkraft. Sie besteht mit sehr gut.
    Besonders die Fachterminologie mit den lateinischen Begriffen macht ihr im Gegensatz zu vielen anderen Spaß. In den Folgejahren heftet sie die besonders nett formulierten Absagen auf ihre Bewerbungen in einem Ordner sorgsam in Klarsichthüllen ab. Die schönsten liest sie mir am Telefon vor, als hätte ihr jemand damit ein Kompliment gemacht.
    Sie wird wieder als MAE eingesetzt: als Bürohilfe und zur Datenerfassung in einem Frauennetzwerk, bei einer Beratungsfirma, in einer Kirche, um Frakturschrift abzutippen, zum Briefe eintüten, sie liest im Waldkrankenhaus Spandau den Senioren Geschichten vor, fährt eine alte Dame im Rollstuhl spazieren und füttert sie.
    Gesundheitlich geht es meiner zierlichen Mutter immer schlechter. Sie konnte noch nie Schweres heben. Langsam werden ihr Nacken und ihr Rücken immer anfälliger. Sie hat Schmerzen, ist zugempfindlich, bekommt Schwindelanfälle. Die Büros, in denen sie tätig ist, sind weder ergonomisch ausgestattet, noch wird großer Wert auf das Klima in den Räumen gelegt. Meine Mutter fällt als Querkopf auf, weil sie darum bittet, das Fenster zu schließen, wegen der Zugluft. Dann muss sie sich mehrfach krankschreiben lassen, weil sie vor Schmerzen nicht mehr aus dem Bett aufstehen kann.
    Sie beantragt eine Beschränkung der Arbeitszeit auf einige Stunden am Tag. Es folgen viele Gutachten, Gespräche und Untersuchungen. Die Arbeitgeber unterstellen ihr Faulheit und drohen mit Sanktionen. Meine Mutter versucht, sachlich zu bleiben. Aber nicht ernst genommen, als Simulantin dargestellt zu werden ist für sie entwürdigend. Die Ärzte bestätigen ihre eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. Auch das überzeugt nicht unbedingt. Der Ton bleibt zynisch, herablassend und kritisch. Meine Mutter hält das aus. Sie will arbeiten, sich nützlich fühlen. Sie weiß viel, kennt sich gut aus in der Literatur, sie kann mit einem Computer umgehen. Aber sie findet kein Angebot, das einer Frau über vierzig, ohne Berufserfahrung und ohne Universitätsabschluss, eine für sie geeignete Arbeitsmöglichkeit in Aussicht stellt. Sie legt es sich so zurecht, dass die

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