Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Kind Ballettbilder aus einem Programmheft geklebt habe. Meine Mutter bewahrt darin Briefe und Geburtstagskarten von mir auf. An wie vielen ihrer Geburtstage war ich eigentlich nicht da? In der Kiste findet sich auch einer meiner ersten Briefe an sie, noch mit großen ungelenken Buchstaben geschrieben. Ich stoße auf Postkarten von Kinderfreizeiten, Briefe aus der Zeit, als ich mein Abitur in Schweden gemacht habe, und einige, die ihr jüngerer Bruder ihr 1978 geschickt hat. Ganz unten liegt ein Gedicht meiner Mutter, das sie am 27. 11. 1979 notiert hat, als ich zwei Monate alt war und das mir wie ein Orakel erscheint: Der Seismograph / Zeugnis und Wagnis / Spur und Fluten / – Alleinkämpfer – / Allegorie und Aleph / – mein süßes Kind – / es ist Nacht. / Morgendämmerung, / rosige Schimmer in Ferne / mein geliebtes Kind / zittert die Seele in mir.
Von Anfang an steht mein Aufwachsen unter den Sternen Einsamkeit, Romantik, Ängstlichkeit und Hoffnung. Gegensätze wechseln sich ab, meine Mutter sieht immer das Morgenrot am Horizont. Zwanzig Jahre später räsoniere ich in meinen Briefen aus Schweden über unsere Beziehung. Die Distanz, die auch durch die räumliche Entfernung entstanden ist, ermöglicht das. Diese Briefe sind der Beginn einer Aussprache und Annäherung, an der sich meine Mutter und ich noch viele Jahre abarbeiten werden.
12. 8. 98: Liebe Mama, du hast mich in deinem Brief gefragt, warum ich schon so früh innerlich von dir weggegangen bin. Ich glaube, das hatte mehrere Gründe: Zum einen hatte ich einen besonders starken Drang zur Selbständigkeit, dadurch hast du ›Angst‹ bekommen und versucht, mich festzuhalten. Das hat dann das Gegenteil von dem bewirkt, was du dir wünschtest. Ich wollte fort aus dieser Atmosphäre von Unsicherheit, Unzulänglichkeit und Verzweiflung. Mir hat es auch wehgetan. Ich konnte einfach nicht mehr meinen und deinen Schmerz tragen. (…) Ich weiß, dass du immer das Beste wolltest, aber dir fiel es schwer, das Ganze aus meiner Perspektive zu sehen. So sind viele Missverständnisse entstanden. Deswegen wollte ich zu Leuten, die mich aufbauen, mir meine Stärken statt meiner Schwächen zeigen. Ich wollte dorthin, wo ich sehen würde, was Familien sind, die so sind, wie es eigentlich gedacht ist.
Wenn ich das heute lese, frage ich mich, ob denn unsere Familie, abgesehen von der finanziellen Situation, so anders war als andere? Oder habe ich damals übertrieben? Das Finanzielle wird in den Briefen kaum erwähnt. Mal bitte ich meine Mutter um ein paar Euro für eine Fahrkarte, mal schreibe ich ihr meine Wünsche auf: einen Fotoapparat, Klamotten, CDs. Ich scheine nicht genau zu wissen, wie wenig Geld meine Mutter zur Verfügung hat. Zweimal ermahne ich sie, sich von dem Geld, das für sie bleibt, genug zu essen zu kaufen. Bei einem Weihnachtsbesuch war sie mir sehr abgemagert erschienen: »Kein Wunder, wenn man bedenkt, was ich in deinem Kühlschrank gesehen habe.« Ich selbst lebte während dieser drei Jahre in Schweden vom Kindergeld, knapp, aber es ging, meine Mutter von dem Rest in Deutschland. Falls das Geld in unserer Beziehung eine Rolle gespielt hat, dann war es vollkommen überschattet von »emotionalen Verstrickungen«, wie meine Mutter es formulieren würde, als Ursache von Problemen oder Streitereien wurde es jedenfalls nie benannt. Was habe ich damals eigentlich wahrgenommen, worüber habe ich mir Gedanken gemacht?
Ich blättere durch die schwülstigen pubertierenden Ergüsse in meinen Tagebüchern. Dort nimmt meine Mutter nur eine Nebenrolle ein. Als ich fünfzehn war und in die 10. Klasse ging, deute ich wiederholt an, dass es Probleme gebe, über die ich lieber gar nicht sprechen wolle, meine Mutter verstünde mich ohnehin nicht. Nach einem Streit notiere ich stichwortartig, welche Vorwürfe ich immer wieder gegen mich gerichtet sehe:
10. 9. 1995. Meine Mutter und ich? Just forget it! Ich bin total familiengeschädigt. Andere Leute haben für so was einen Psychiater, aber ich? Wie immer bin ich herzlos, stur und querköpfig, kurz: ich bin schuld, und schätzungsweise kann man mit mir ja so nicht leben.
Was genau »so was« ist, schreibe ich nicht. Aber ist ein solcher Ausbruch nicht normal für eine Fünfzehnjährige? Oder gab es bei uns ein »Mehr«, das unsere Beziehung belastet hat? Ab und zu erwähne ich meine Mutter positiv, aber meistens gar nicht. Ich fülle Seite um Seite damit, dass ich schreiben möchte, aber
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