Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
kündbar ist, auch wenn andere wichtige Beziehungen in ihrem Leben von anderen Menschen gekündigt wurden und sie allein zurückließen.
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Immer wieder habe ich in den Jahren von meiner Mutter den Satz gehört: »Jetzt schreibe ich auch nicht mehr«. Damit meinte sie die Briefe und Postkarten an ihre Geschwister oder an ihre Mutter, die alle in Norddeutschland leben. Sie haben einander, meine Mutter und ich hingegen sind in Berlin so weit von ihnen entfernt, als säßen wir am Nordpol. In der Familie gab es immer wieder Unstimmigkeiten wegen der vielen Fragen, die meine Mutter in Bezug auf die Vergangenheit hatte. Keiner der anderen wollte darüber so ausführlich reden wie sie. Meine Mutter leidet unter dem Gefühl, Dinge nicht aussprechen zu dürfen, während die anderen vermutlich das Gefühl haben, bereits genug geredet zu haben. Belanglosigkeiten auszutauschen ist am ungefährlichsten.
Die Familiengeschichte meiner Mutter ist geprägt von Unsicherheit, Entbehrung und Überlastung. Meine Mutter war all die Jahre, die ich mit ihr zusammen bin, bis auf eine unglückliche und ungleiche Liebesgeschichte allein. Das heißt: Auch ich bin ihre einzige Bezugsperson. Das hat mich manchmal ganz schön überfordert, zumal in unseren Streitereien ihre alten Familienkonflikte eine Rolle spielten, die mit mir selbst eigentlich gar nichts zu tun hatten. Das habe ich aber erst verstanden, nachdem ich ausgezogen war.
Es hat mir wehgetan, mich zu fragen, ob meine Mutter depressiv ist. Hat sie viele Dinge einfach nicht gesehen, weil sie zu sehr mit sich selbst, ihren eigenen Ängsten und unserer knappen finanziellen Situation beschäftigt war? Meine Mutter würde nur teilweise zustimmen. Dass sie depressiv war, würde sie vermutlich nicht gelten lassen. Sie war nie in einer Klinik, sie hat nie Medikamente genommen, war nie manisch. Aber andere Mütter waren so viel fröhlicher und freundlicher – das fiel mir schon im Kindergarten auf.
Dass es ihr nicht besonders gutging in meinen ersten Lebensjahren, dass ihre Lebenslust und ihr Lebensmut klein waren in meinen frühen Schuljahren, das hat sie in vielen unserer Gespräche selbst zugegeben. »Da war ich seelisch so müde – depressiv, ohne es zu wissen«, meinte sie. Aber dennoch: Meine Mutter hat sich nie gehenlassen, sie ist nie liegengeblieben, sie hat mich oder die Wohnung nie vernachlässigt. Innerlich hat sie immer gekämpft. Das ist schwer, wenn man mit seinen Gedanken, Problemen, Wünschen und Hoffnungen ganz allein ist. Niemand hat ihr praktisch geholfen, niemand hat sie ermutigt oder dafür gesorgt, dass sie sich mal entspannen kann. Es gab keine Studien- oder Arbeitskollegen, keine Groß- oder Schwiegereltern, die mit anpackten oder ein Stück Geselligkeit in unser Alltagsleben brachten. In unserem Universum gab es nur uns.
Vermutlich sah meine Mutter keine andere Möglichkeit, als mit sich selbst zu kämpfen, sich ganz zurückzunehmen, nur die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Tochter gelten zu lassen. Jede weitere Bemühung um Freunde, Bekannte oder gar Partner hätte ein Mehr an Selbstdarstellung, an Geld und Kompromissen gefordert. Positiv formuliert: totale Aufopferung einer Mutter für ihr Kind. Negativ formuliert: totale Selbstaufgabe einer jungen Frau, die Potential und Ambitionen, aber keine Unterstützer hatte und nicht in der Lage war, sich diese zu suchen.
Meine Mutter hatte, wie mein Vater, eine Nachkriegskindheit, eine, die das Kind nicht unversehrt zurücklässt. Auch ihr hat Geborgenheit gefehlt, ein Zuhause. Hinzu kamen viele Missverständnisse in der Familie, die nie aufgeklärt wurden und sie ein Leben lang in Form von Selbstzweifeln begleiten.
Als sie, acht Jahre nach meinem Vater, geboren wurde, fielen keine Bomben mehr vom Himmel. Meine Oma ließ sich nach einer Flucht aus der Ukraine und nach einer Job-Tour durch ganz Deutschland schließlich in Ostfriesland nieder. Ihre Familie gehörte zu den Deutschstämmigen, die heimgeholt werden sollten, als die Russen 1941 schon in der Nähe ihres Dorfes waren. Ihren Vater, Lennhard Bülow, den meine Oma auf einem Bauernhof kennenlernte und heiratete, hat meine Mutter nie gesehen. Als sie geboren wurde, waren ihre Eltern schon geschieden. Und Lennhard Bülow verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Meine Oma und ihr neuer Mann haben ihn später vergeblich gesucht. Er hat nie Unterhalt für seine beiden Töchter gezahlt. Meine Oma ist nach Emden gezogen und hat in einer Hotelrezeption gearbeitet.
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