Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Sozialhilfe der Lohn ist, den sie für ihre Arbeit bekommt, damit sie sich nicht zu schämen braucht. Sie ist dankbar für jedes verständnisvolle Wort. Sie freundet sich mit zwei Frauen, einer Deutschrussin und einer Tänzerin, im Laufe der Arbeitsmaßnahmen an. Manchmal trinken sie zusammen Kaffee. Zu Hause. Etwas anderes kann sich keine von ihnen leisten.
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Als ich mich 1999 nach Schweden aufmache und meine Mutter allein lasse, geht es ihr nicht besonders gut. Sie sucht ihren alten Psychoanalytiker auf, schreibt mir Briefe. Manchmal habe ich in Schweden Angst um sie, aber ich fühle mich machtlos, ihre Traurigkeit erdrückt mich. Ich musste einfach weg.
Wenn ich sie besuche, nähern wir uns einander langsam wieder an. Ich erzähle ihr von meiner neuen Welt. Es folgen lange Gespräche, Phasen von Nähe und Abstand. So geht es auch weiter, als ich nach dem Abitur zurück nach Deutschland komme, um zu studieren. Einen Monat später ziehe ich in meine erste kleine Wohnung.
Meine Mutter will aus unserer für sie zu groß gewordenen Wohnung ausziehen. Sie zieht zweimal um, die erste Wohnung empfindet sie wie einen Käfig. Die Auswahl, die sie hat, ist begrenzt. Durch das langwierige Genehmigungsverfahren beim Amt noch begrenzter. Manche Wohnungsgesellschaften sagen von vornherein ab, wenn Hartz IV zur Sprache kommt. »Eine Wohnungsgesellschaft schickte mir einen Fragebogen, und als sie sahen, dass ich zur Zeit Sozialhilfe beziehe, schrieben sie, es seien zu viele Nachfragen, als dass sie mich vormerken könnten, und wiesen mich darauf hin, wo ich im Branchenbuch andere Baugenossenschaften finden könne«, notiert sie in ihrem Tagebuch.
Meine Mutter ist gezwungen, Kompromisse zu machen. Sie macht zu viele Kompromisse. Und hinterher ist sie unglücklich.
Zwischen ihren Umzügen landet sie bei mir. Sie streitet mit meiner Mitbewohnerin, ihre unglückliche Situation nimmt mich mit. Die Beziehung zu ihr strengt mich an. Ich bekomme Heulkrämpfe und gehe diesmal selbst für ein Jahr in Therapie. »Unsichere Persönlichkeitsanteile« ist die Diagnose. Ich bekomme Zeitpläne, ein Bewusstsein dafür, dass ich temporäre Phasen als absolute und dauerhafte Zustände empfinde. »Katastrophieren« nennt man das. Ich trage in Tagespläne ein, wann es mir gut- oder schlechtgeht. Das Bewerten ist am Anfang schwer. Am Ende habe ich gelernt, dass es mir öfter gutgeht, als ich dachte, dass ich Ansprüche an mich selbst stelle, die ich nicht immer erfüllen kann, was ich dann als Versagen bewerte. Ich lerne, dass ich eine ganz andere Persönlichkeit bin als meine Mutter. Meine Mutter beschreibt sich selbst als »schweigsam, pflanzenartig«. Sie ist keine, die den Ton angibt, sie ist abhängig von ihrer Umgebung, sie reagiert und passt sich an. Sie ist die Intellektuelle von uns beiden. Ihr Wissensdurst war immer mein Maßstab.
Es ist eine Erleichterung, sich »normal« zu fühlen. Mit 24 Jahren fange ich an, ein positives Selbstbild von mir zu entwickeln, das mir meine eigenen Schwächen zugesteht und verzeiht. Langsam kann ich die Ängste meiner Mutter verstehen und nicht mehr als Kind, sondern als Erwachsene darauf reagieren.
Meine Mutter und ich fangen an, kleine Traditionen zu entwickeln, wie zu Festtagen. Wir gucken Filme auf meinem Laptop. Wenn wir zusammen U-Bahn fahren, finde ich es cool, ihr einen meiner Ohrstöpsel vom iPod abzugeben. Klar, für meine Mutter ist all das noch viel zu wenig. Für mich ist es manchmal zu viel. Wir telefonieren häufiger. Sie kauft ein Handy und schickt mir SMS und Videos von unseren Wellensittichen. Sie bekommt immer mehr Anteil an meinem Leben, meinen Gefühlen. Manchmal bricht unsere Beziehung wieder ein, ich bin schnell überempfindlich und traurig. Dann werden die alten Vorwürfe wieder laut. Ich kann nicht noch mehr beweisen. Die Angst, nie glücklich werden zu können und die Einsamkeit geerbt zu haben, bleibt.
Heute habe ich keine Geheimnisse mehr vor ihr. Ich traue mich, sie anzurufen, wenn ich mich schwach fühle, ohne Angst zu haben, dass ich mich danach noch schwächer fühle. Meine Mutter hat gelernt, ruhig zu bleiben. Wenn sie nichts sagen kann, das mich aufmuntert, fühle ich mich nicht mehr unverstanden oder hilflos und werde auch nicht mehr von dem Gedanken überfallen, dass sie mir nichts zutraut. Meine Mutter hat nicht mehr so viel Angst, dass ich sie wegen eines falschen Satzes gleich verstoße oder mich durch eine falsche Entscheidung selbst ins Unglück stürze. Ich
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