Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
»Normalität« heißt.
Soziale Bindungen sind etwas sehr Rares, intensiv, zerbrechlich und intim. Es fällt vielen von uns schwer, oberflächliche Bindungen einzugehen, Freundschaften zu beginnen, die von vornherein zeitlich begrenzt sind. Störungen im privaten Lebensbereich wirken sich bei den meisten von uns auf die Arbeitsmoral und Leistungsfähigkeit aus. Beziehungsprobleme können uns fast völlig blockieren. Gegen die Lethargie und Verlustangst anzukämpfen kostet in solchen Phasen alle Kraft. Fühlen wir uns geborgen und als Person bestätigt, können wir es, ohne zu jammern, mit materiellen Engpässen, langen Arbeitszeiten oder hoher Belastung aufnehmen.
Als Jugendliche habe ich versucht, unsere soziale Isolation in einer Kirchengemeinde zu kompensieren. Das war sicher eine Strategie, die sich für mich ausgezahlt hat. Die Kirche ist ein Ort, der finanziell Schwachen immer noch Möglichkeiten der Teilhabe bietet. Schließlich gehört es zum Selbstverständnis der Kirche, durch die Organisation von Gruppenaktivitäten einen Ausgleich zu ermöglichen. Außerdem sind die Klassenschranken zumindest vordergründig aufgehoben und die Kommunikation ist durchlässiger, weil es im Glaubensauftrag der Mitglieder liegt, sich zu kümmern und die Ausgegrenzten zu integrieren. Auf diese Weise habe ich mich in der Mittelschicht bewegt, ohne darüber nachzudenken, dass die meisten meiner Freunde zur Mittelschicht gehörten. Ich nahm an, die Unterschiede zwischen uns beruhten darauf, dass ihre Eltern auch gläubig waren, in die Kirche gingen und eine größere Wohnung und ein Auto besaßen. Den Unterschied, den ich wahrnahm, führte ich auf meine eigene Unfähigkeit und die traurige Grundstimmung meiner Mutter zurück, die nicht Teil eines so lustigen bunten Gemeindelebens sein wollte. Manchmal schob ich ihn auch auf meinen fehlenden Vater. Die Gemeinde wurde zum Familienersatz.
Über Geld habe ich nicht so viel nachgedacht. Höchstens dann, wenn ich hungrig auf alle anderen warten musste, die nach dem Gottesdienst noch Pizza essen gingen oder nach dem Jugendtreff Döner kauften. Was für die meisten meiner Bekannten eine Normalität war, war für mich immer der Moment, in dem die Disziplin den Appetit zügeln musste. Aber manchmal auch der, in dem man vielleicht von Freunden etwas abbekommen hat. Die Ausgrenzung wurde dann durch das Teilen aufgehoben und in ein Gemeinschaftserlebnis verwandelt.
War ich, wie so oft an Sonntagen, bei meiner Freundin zu Gast und es gab statt Selbstgekochtem etwas vom Italiener nebenan, habe ich alle Reste aufgegessen, selbst wenn ich längst nicht mehr konnte. Mein Appetit war grenzenlos, ich wusste nicht, wann ich wieder so eine Pizza bekommen würde. Ich hätte nichts davon liegen lassen können.
Aber Geld spielte natürlich immer eine identitätsstiftende Rolle. Im ersten Jahr auf dem Gymnasium hat mir meine Klassenlehrerin kurz vor den Weihnachtsferien diskret ein kleines grünes Kästchen in die Hand gedrückt. »Für dich und deine Mutter«, hat sie zu mir gesagt. Ich habe ihr nie etwas Bestimmtes über mich erzählt. Vielleicht hat sie gut beobachtet und gut gefragt. Sie war immer sehr nett und aufmunternd zu mir. Sie hat mir auf einem Klassenfest das Bluestanzen beigebracht und mich immer wieder aufgefordert, bei den Gruppenspielen mitzumachen. Sie hat alles, was man positiv kommentieren konnte, aufmerksam registriert. Später schrieb sie mir auf einer Postkarte, dass ich die Einzige in der Klasse gewesen sei, die sich mit einem Gedicht vorgestellt hatte. In dem grünen Kästchen waren Ferrero-Küsschen – die meine Mutter uns nie gekauft hätte – und ein Fünfzigmarkschein.
Trotzdem hat meine Mutter nie das Wort »arm« für uns benutzt. Sie hat es einfach nicht gelten lassen. Dass sie sehr gut mit Geld umgehen kann, lässt ein klassisches Armutsstereotyp bei ihr ins Leere laufen. Sie wäre nie zu einer der Tafeln gegangen – schon aus Stolz nicht. Sie hat mich glauben lassen, dass die Armen andere Leute sind als wir.
Mein Vater hingegen hat sich gern als »armer Schlucker« bezeichnet. Dabei hatte er durch seinen Taxijob mehr Geld zur Verfügung als meine Mutter. Armut hat also auch etwas mit »gefühlter« Armut zu tun. Wenn Politiker wie Guido Westerwelle und Kurt Beck recht damit hätten, dass erst die Einstellung das Prekariat zum Prekariat macht, dann hätte meine Mutter ebenfalls recht mit ihrer Behauptung, dass wir nicht dazugehörten. Aber das hätte uns wohl kaum
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