Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
brauche das Gefühl, dass meine Mutter mir vertraut. Dann kann auch ich ihr vertrauen.
KAPITEL NEUN
»Sind wir arm?«
In dem ich mich frage, wie meine Mutter es geschafft hat, mich glauben zu lassen, dass die »Armen« andere Leute als wir sind.
Armut ist schmutzig, hungrig, gierig, mitleiderregend. Arme Menschen stellen wir uns nicht selbstbewusst vor, sondern im besten Falle dankbar. Wer hebt nicht entsetzt die Augenbrauen, wenn ein »Motz«-Verkäufer in der U-Bahn plötzlich den Ton wechselt; von einem bittenden »Haben Sie vielleicht etwas Kleingeld übrig?« zu »Scheiße! Alles Geizkragen!«, wenn die Fahrgäste ihn leer ausgehen lassen. Warum gibt man so einem so ungern Almosen? Hat er kein Recht, sich zu beschweren, wenn ihm keiner hilft? Haben wir ein Recht, ihm Unterstützung zu verweigern, weil er sich nicht so verhält, wie wir es gern hätten? Und weil wir sehen, dass er sich auch morgen nicht aus seiner Lage befreien wird?
Jener Obdachlose, der in der Berliner S-Bahn immer wieder das Gedicht von der Eintagsfliege zum Besten gibt, hat mehr schauspielerisches Talent. Er flößt uns Geberlaune ein. Dieser Mensch weiß, dass er nicht ausrasten darf, dass er seine wirklichen Gefühle verstecken muss und nur belohnt wird, wenn er lächelnd sein Zirkusstück vorführt. Er kann sich kontrollieren. Wir glauben ihm, dass er alles tut, um sein Leben zu ändern. Er bekommt immer ein paar Cents für sein Gedicht. Das habe ich schon oft beobachtet.
Wir wählen nach Sympathie und äußeren Kriterien aus, wem wir helfen, selbst wenn diese Menschen in einer Notlage sind. Wir verlangen selbst von denen, die ganz unten sind, dass sie uns etwas liefern, womit wir uns identifizieren können. Aber wer identifiziert sich schon gerne mit einem Hartz-IV-Empfänger?
Viele denken heutzutage bei Hartz IV schneller an aggressive Penner als an unterbezahlte Arbeiter, alleinerziehende Mütter, arbeitslose Akademiker, Schüler in der Ausbildung oder kranke, arbeitsunfähige Leistungsbezieher. Dabei machen diese Gruppen mehr als die Hälfte der 4,43 Millionen Hartz-IV-Empfänger aus. Mehr als die, auf die das Stereotyp des lästigen »Hartzers« möglicherweise passen könnte.
Wohlwollendere denken bei Hartz IV eher an verwahrloste, unschuldige Kinder, die unter dem Versagen ihrer Eltern leiden. Mit meinem Leben hat ein solches Klischee nichts zu tun. Ich saß nie verschmiert auf der Straße, ich habe manchmal Zwieback mit Senf gegessen, weil das am ehesten nach Burger schmeckte, aber ich bin nie hungrig schlafen gegangen. Wir haben in einer ordentlichen Wohnung gewohnt, wir hatten immer warmes Wasser und Strom. Bei dem Wort »Kinderarmut« denke ich eher an Charles Dickens und seinen Klassiker »Oliver Twist«. Vielleicht denke ich noch an die Roma-Kinder mit ihren Ziehharmonikas. Kurz, ich stelle mir unter »richtiger Armut« Menschen vor, die in der sogenannten Dritten Welt an der Überlebensgrenze vegetieren, wo Dürren oder schlechte Landwirtschaft die Lebensmittelvorräte vernichtet haben und es keine Kanalisation gibt.
Aber was Armut in Deutschland ausmacht, ist nicht primär durch Hunger, Krankheit und Trinkwasserknappheit gekennzeichnet: Es ist Armut im Sozialen, im Wissen um Dinge wie den Umgang mit Geld oder Ernährung, fehlender Glaube an Bildungs- und Aufstiegschancen, an langfristige Investitionen und an sich selbst. Ironischerweise fehlt es genau an den Dingen, die bei uns wenig kosten: Zugang zu Informationen, Internet, Büchern, Wissen, Zeit und Platz für Kinder, damit sie sich austoben und entfalten können. Es gibt Angebote, die versuchen, diese Defizite aufzufangen: Vereine und Initiativen bemühen sich, indem sie Zuschüsse beantragen oder Spenden sammeln und Gönner suchen.
Armut ist mehr als ein finanzieller Mangel. Armut ist die Kombination vieler Mängel über eine lange Zeit, die sich vielleicht einmal aus finanziellen Mängeln entwickelt haben. Um wirklich über Armut zu sprechen, muss man sich bewusst machen, dass sie verschiedene Dimensionen hat, die einer genauen Betrachtung bedürfen.
Um beurteilen zu können, ob ich eigentlich arm aufgewachsen bin und woran ich das festmachen kann, muss ich zurück zu der Frage, was es bedeutet, arm zu sein in einem reichen Land. Die Armut, die mich, trotz der Bemühungen meiner Mutter, getroffen hat, wird nur auf verschiedenen Ebenen greifbar. Die größten Defizite liegen vielleicht nicht dort, wo man sie erwartet.
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Meine Mutter gehört laut
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