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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Statistik zu zwei sich überschneidenden Risikogruppen. Alleinerziehende Mütter und Langzeitarbeitslose. Wobei Letzteres im Fall meiner Mutter zwar der Wahrheit, aber nicht ganz der Statistik entspricht. In der hätte man sie, obwohl sie lange nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig war, viele Jahre nicht gefunden. Nämlich immer dann nicht, wenn sie gerade in einer Weiterbildung, Qualifikation oder einem Ein-Euro-Job beschäftigt wurde. Auch dort ist man weit weg von jeder Erwerbstätigkeit, auch wenn die Statistiker das anders handhaben.
    Wie viele Menschen, so wie meine Mutter, wirklich ohne Zugang zum ersten Arbeitsmarkt sind, kann man nirgendwo erfahren. Langzeitarbeitslos ist in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, wer ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Bekommt man einen Ein-Euro-Job, eine Trainings- und Qualifizierungsmaßnahme oder wird man länger als sechs Wochen krank, fällt man aus der Statistik heraus. Wenn man nur einen Tag Arbeit hat, dann erfasst einen die Statistik danach neu, als wäre man bisher nie darin aufgetaucht. Anders formuliert: In Deutschland ist laut Statistik kaum jemand länger langzeitarbeitslos als zwei Jahre, dafür sorgen Vermittler der Bundesagentur, die Leute in Maßnahmen unterbringen. Es wäre aber wichtig zu wissen, wer die Menschen sind, die mehrere Jahrzehnte arbeitslos sind und warum sie nicht aus der Arbeitslosigkeit herauskommen. Aber das will offensichtlich an offizieller Stelle keiner so genau herausfinden. Für die Statistik wäre das Ergebnis auch unschön.
    Meine Mutter hätte gern und mit Begeisterung gearbeitet. Sie wäre auch für viele kleine Jobs kompetent gewesen. Mit einer halben Aushilfsstelle wäre sie zufrieden gewesen. Sie hat sich auch in der Zweigstelle der Stadtbibliothek Spandau beworben. Aber für solche Stellen braucht man mindestens einen Fürsprecher. Oder man muss außerordentlich gut für sich selbst sprechen können. Das ist keine Stärke meiner Mutter. Ihre einzige Chance wäre es gewesen, an einen gutwilligen Arbeitgeber zu geraten, der sich ein paar Minuten Zeit für sie genommen hätte. Denn an ihrer Schulausbildung, ihrem Zeugnis der mittleren Reife oder dem abgebrochenen Abitur erkennt man ihre Fähigkeiten nicht. Aber eine Frage nach ihren Interessen würde ihr reiches Wissen zu Literatur, Psychologie, Philosophie und klassischer Musik offenlegen.
    Ein Vorstellungsgespräch ist für sie eine Herausforderung. In Prüfungssituationen wird sie schnell nervös. Sie weiß, dass die meisten Bewerber ihr einiges voraus haben. Ihre Kenntnisse kann man ihr nur entlocken, wenn man ihr das Gefühl gibt, dass sie Zeit hat. Nur, welcher Arbeitgeber nimmt sich diese heutzutage noch? Es sei denn, es handelt sich um persönlich Bekannte.
    Zu Hause wurde unsere eigene finanziell eingeschränkte Situation laut Statistik dadurch verschlimmert, dass wir in einer Großstadt wohnten. Die Kosten sind in der Großstadt höher und Teilhabe ist schwieriger. Wir wohnten dazu im Stadtrandgebiet, wo man von einer schlechten Infrastruktur ausgehen muss und von einem begrenzten Einkaufsangebot; Discounter und ein teurerer Supermarkt, beide mit einer begrenzten Auswahl an frischem Gemüse. Der einzige Gemüsehändler, der »Türke«, war überteuert. Wochenmärkte und günstige regionale Produkte noch nicht in Reichweite oder außerhalb unseres Budgets. Apfel, Pflaume, Kirsche oder Walnuss sind allenfalls hinter den Zäunen in den Schrebergärten anderer zu sehen, die gern das Lob auf ein grünes Spandau singen. Obwohl es Parks und Wiesen gibt, ist es nicht möglich, die Lebensmittel mit eigener Ernte aufzustocken. Im Spandauer Wald Pilze zu suchen oder Kräuter zu pflücken, ist auch nicht ergiebig, erstens wächst dort kaum etwas, und wo man frischen Löwenzahn hätte finden können, konnte man ihn nicht pflücken. Hundeauslaufgebiet.
    Die Armutsdimension, die jedoch in unserem speziellen Fall am schwersten wiegt, liegt im Sozialen. Abgesehen davon, dass wir viele kulturelle Veranstaltungen nicht besuchen konnten, dass wir nie ins Restaurant gegangen sind, nicht zum Friseur, nicht Kaffeetrinken und unterwegs kostenpflichtige öffentliche Toiletten vermieden haben, hatten wir keine Bekannten, kein soziales Umfeld, das hilfreiche Kontakte zu anderen geboten hätte. Wir lebten wie in einer Luftblase in unserer eigenen Welt, wie von einer gläsernen Membran getrennt von dem Alltag mit Abendbrot und Spreewaldgurken, der in den meisten Familien

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