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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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man den Erstantrag ausfüllt, kennt vermutlich jeder Kunde des Jobcenters, auch wer nicht gerade zu überempfindlichen Reaktionen neigt. Es geht dabei in den meisten Fällen auch gar nicht darum, dass man ausgesprochen schlecht behandelt wird oder gar beleidigt. Vielmehr ist es die Beratungsstruktur des Jobcenters, die dieses Ohnmachtsgefühl erzeugt. In einem Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) heißt es zur Arbeitsweise der Arbeitsvermittler: »Ein auf Standardisierung zielendes Profiling (ist) in der Praxis der Kundenbetreuung auf subjektive Interpretationsleistungen der Vermittler angewiesen.« (IAB Kurzbericht Nr. 214.12.2006) Profiling bedeutet, dass der Sachbearbeiter den Kunden auf seine »Vermittlungsfähigkeit« einschätzen muss. Dabei bewertet er berufliche Qualifikation, sonstige Fähigkeiten und Kenntnisse und auch den Charakter, Verlässlichkeit, Kooperationswillen und die Arbeitsmotivation des Kunden. Dinge, die sehr schwer objektiv zu beurteilen sind, wenn man sich nicht kennt – noch schwerer, wenn man aus unterschiedlichen Lebenswelten kommt oder gar aus unterschiedlichen Kulturen. Und dann muss der Sachbearbeiter auch noch den Spagat zwischen Beratung und Kontrolle in seinem Handeln hinkriegen. Ein anspruchsvoller Job, bei dem viele Fallstricke, Missverständnisse und Übersetzungsprobleme vorprogrammiert sind.
    In dem Bericht des IAB wird darauf hingewiesen, wie notwendig die Fähigkeit der Vermittler ist, ihre »Kunden« zum »Sprechen« zu bringen. Welch eine Idealvorstellung! Voraussetzung für einen solchen Dialog wäre doch, dass die Vermittler ein Verständnis für die Situation ihrer Kunden entwickeln. Wie aber soll das möglich sein angesichts vieler Bedingungen und Bestimmungen, denen auch die Berater selbst unterliegen und die dazu führen, dass letztlich jedes Gespräch zwischen Kunde und Vermittler wie ein Prüfungsgespräch verläuft, in dem es richtige und falsche Antworten gibt. Eine solche Gesprächsstruktur ist nicht dialogisch, sondern fußt auf eingleisigen Kommunikationskanälen – die Behörde, der Vermittler als ihr Repräsentant, entscheidet, was möglich ist, nicht der Kunde.
    Ein offener, auf Verständnis zielender Dialog setzt außerdem eine Vertrauensbasis der »Kunden« zu ihren Vermittlern voraus. Doch in meinem Bekannten- und Kollegenkreis habe ich noch niemanden getroffen, der die Beziehung zu seinem Vermittler als ein wirkliches Vertrauensverhältnis beschrieben hätte. Bestenfalls eine gewisse Sympathie, die den Sachbearbeiter, der helfen möchte, aber nicht kann, weil er an das Gesetz gebunden ist, in Schutz nimmt. Die Frage bleibt: Entweder sind das Profiling und das Gesetz nicht auf die Realität der »Kunden« abgestimmt und können auf ihre Bedürfnisse nicht flexibel genug reagieren, oder die Vermittler sind unfähig, an den richtigen Stellen passende Hilfe anzubieten. Das wiederum könnte an ihrer Kompetenz oder an ihren Arbeitsbedingungen liegen. Und solange dieses Problem nicht gelöst ist, bleibt die Beratung eine Prüfung. Und Prüfungen laden dazu ein, dass man sie mit allen Mitteln bestehen will, auch bestehen muss, denn hier geht es um die eigene Existenz. Grundstürzende Ehrlichkeit zahlt sich dabei nicht unbedingt aus.
    »Gute Sachbearbeiter sind meistens nicht lange da«, habe ich meine Mutter im Laufe der Jahre einige Male sagen hören. Ein »guter« Sachbearbeiter ist einer, der freundlich ist, zuhört und verständlich Möglichkeiten und Grenzen des Sozialgesetzbuches II, das für die Hartz-IVler gilt, erklären kann. Für einen Beitragsempfänger ist die Art und Weise, wie der Sachbearbeiter auf ihn reagiert, keine nebensächliche Formfrage – es scheint für ihn oft wichtiger zu sein als die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Anliegens, weil es seine Würde betrifft. Von Seiten der Ämter wurde bisher durch das Rotationsprinzip garantiert, dass die Vermittler immer wieder wechseln und nie einer zu lange für einen Kunden zuständig ist. Es soll keine persönliche Bindung entstehen.
    *
    Mein Vater hat mich fast ausgelacht, als ich ihn einmal gefragt habe, warum er denn, anstatt mit dem Rollstuhl einen halben Tag auf dem Amt zu vergeuden, nicht einfach anrufe, wenn er eine Frage habe. Er hat mich angeschaut, als hätte ich ihn gebeten, mir ein Stück vom Mond zu besorgen. »Behörden kann man nicht telefonisch erreichen«, hat er nur gegrummelt und den Kopf geschüttelt über meinen

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