Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Extraleistung bis zum Ende des Jahres abliefern konnte, um dieses Ziel doch noch zu erreichen. Die Bewertungs- und Leistungskriterien waren transparent und nahmen dennoch Rücksicht auf die Fähigkeiten und Interessen des Einzelnen. Ich durfte mir in einem vorgegebenen Rahmen selbst mein Thema aussuchen, über das ich lesen, schreiben oder vortragen wollte, und ich hatte das Gefühl, dass ich eine ganze Menge leisten konnte. Das machte mir richtig Spaß: Sprache und Literatur sowieso, aber auf einmal entdeckte ich auch eine Vorliebe für Biologie und Geschichte, in Englisch wurden gleichzeitig verschiedene Formen des Vortrags geübt und als Wahlfach belegte ich Rhetorik.
In der Schule gab es Mittagessen, was für mich neu war und den Schultag angenehm in zwei Hälften teilte. Für mich zahlte die Schule das Essen, alle anderen mussten dafür einen nicht besonders hohen Betrag aufbringen. Zu jedem Essen gab es gesalzene Margarine und Knäckebrot, von dem man sich satt essen konnte, falls die Portion auf dem Teller den Appetit nicht stillte.
Und es gab noch etwas, an das ich mich gern erinnere: Als Schülerin durfte ich mir im Sekretariat Freikarten für die Konzerte des Helsingborger Orchesters abholen. Die Stadt hat gerade einmal 130000 Einwohner, aber ein sehr gutes Orchester. Schülern stand jeden Monat ein bestimmtes Kontingent an Freikarten zur Verfügung. Und wenn noch genug Plätze vorhanden waren, konnte man auch für eine Begleitperson eine Ermäßigung erhalten. Ich war sicher die Schülerin, die am meisten Gebrauch von den Freikarten machte. Diese Abende im Konzert habe ich sehr genossen, wenn ich auf den Holzsesseln im Halbdunkel zum Klang der Musik abschalten konnte. Alle Sorgen verschwanden dann.
Außerdem konnte ich, wenn ich meinen Schülerausweis in der Schwimmhalle vorzeigte und mich in eine Liste eintrug, an einem bestimmten Tag der Woche umsonst schwimmen. Im Schwimmbad gab es, wie in allen schwedischen Hallenbädern, neben den Herren- und Frauen-Duschen jeweils eine kleine Sauna, die gern zum Tratschen mit Freundinnen genutzt wurde. Nirgends hing ein Schild, das zur Ruhe mahnte. Die Sauna ist ein Ort der Gemeinschaft.
Solche Angebote konnten von jedem Schüler, ob reich oder arm, genutzt werden. Ich habe noch nie so viel Sport getrieben wie in jenem Jahr, ich war nie so fit wie damals und habe nie so gut gelernt. War ich nicht im Konzertsaal oder beim Schwimmen, dann trainierte ich in dem verschwitzten Fitnessraum, der zur Sporthalle der Schule gehörte. Niemand hat mich dort jemals kontrolliert. Oder ich lernte in der kleinen Stadtbibliothek, in der es mitten zwischen den Büchern ein kleines Café gab, das für 15 Kronen (ca. 1,70 EUR) die beste heiße Schokolade der Stadt verkaufte und für 5 Kronen (ca. 50 Cent) die typisch schwedischen Chokladbollar, »Schokobälle« aus Haferflocken, Butter, Kakao, viel Zucker und Kokosflocken. Das war auch für mich ab und zu bezahlbar und machte das Lernen noch angenehmer.
Anderthalb Jahre später habe ich auf der Olympiaskolan mein Abitur gemacht. Jahrelang hatte ich Angst vor den Abiturprüfungen gehabt. In Deutschland war ich lange davon überzeugt gewesen, dass ich das nicht schaffen würde. In Schweden hat jeder Kurs eine Abschlussprüfung, die wie die normalen Klausuren abläuft. Zwei bis drei Stunden. Dann ist der Kurs zu Ende. Die Bewertung des Lehrers und die Ergebnisse aus mündlichen und schriftlichen Arbeiten ergeben eine Punktzahl, die dann die Note bestimmt und auf dem Zeugnis steht. Und das war’s. Irgendwann ist alles einfach vorbei.
Am Tag der Zeugnisvergabe ist die Stadt voll mit Menschen. Morgens trifft man sich mit seiner Klasse zum Sektfrühstück, es wird getrunken und gesungen, bevor es in die Schule geht. Die Jungen tragen dunkle Anzüge, die Mädchen etwas Weißes. Jeder schreibt jedem etwas ins Abiturhütchen, das mit dem schwarzen Schirm aussieht wie eine Matrosenmütze. Die Mütze wird später an nationalen Feiertagen wieder hervorgeholt und aufgesetzt. Das ist in Schweden, aber auch in Dänemark und Finnland Tradition. In der Aula wird eine Rede gehalten, bevor die Zeugnisse in den Klassen verteilt werden. Die Eltern warten auf dem Schulhof mit einem Plakat, auf das ein großes Kindheitsfoto geklebt ist. Bänder und Plakate sind in den Nationalfarben gelb und blau. Dann strömen die Schüler aller Abiturklassen ins Stadtzentrum. Die Menschen blasen in Trillerpfeifen, Lieder werden gesungen und gegrölt. Freunde
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