Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
den hängt viel von den grauen Formularen ab. Für einige mag das BAföG-Geld eher ein Extra sein, für andere ist es die Lebensgrundlage. Schwierig kann es auch für Kandidaten werden, die in einen anderen Fachbereich überwechseln wollen oder dazu gezwungen sind, weil sie die Prüfungen nicht bestanden haben. Viele sitzen mit existenziellen Ängsten auf den orangen Plastikstühlen.
Für Leute wie mich, so sah ich es damals, schien BAföG eine Chance zu sein, die ich als lohnende Investition in meine Zukunft nutzen musste. Mit zwei arbeitslosen Eltern muss man nicht viele Extrablätter zum Antrag ausfüllen, man kann ziemlich sicher sein, dass der Antrag bewilligt wird und dass man von der Summe, die dabei herauskommt, dem damaligen Höchstsatz von 585 Euro, durchaus leben kann. Alles ziemlich gute Voraussetzungen, um gelassen auf dem grauen Flur zu warten, bis man dran war. Ich hatte mich gut informiert und wusste auch, wie ich es hinkriegen konnte, dass ich mein leider nicht NC-freies Lieblingsfach trotzdem studieren konnte und zu welchem Zeitpunkt ich den Antrag auf Fächerwechsel stellen musste, so dass mir nichts von meiner Förderzeit verloren gehen würde.
Im Nachhinein rächt sich das einzige Privileg der Unterprivilegierten: Das Anrecht auf den BAföG-Höchstsatz macht auch die Schuldensumme am Ende größer. Hätte ich seinerzeit in die berühmte Kristallkugel schauen können, um mir meine finanzielle Zukunft weissagen zu lassen, dann hätte ich entweder etwas anderes oder, noch wahrscheinlicher, gar nicht studiert. Ich hätte so gedacht, wie laut Katja Urbatsch von der Organisation »Arbeiterkind« die meisten denken, die aus einem finanziell schwachen, nicht-akademischen Haushalt kommen: pragmatisch. Das heißt, so schnell wie möglich Geld verdienen und die Existenz sichern. Ich hätte gedacht, dass BAföG ja schön und gut sein mag, dass ich aber keine Rücklagen habe und dass es vernünftiger ist, erst eine Ausbildung zu machen und Geld zu verdienen. Vielleicht ergäbe sich später die Gelegenheit zu studieren.
Aber so habe ich nicht gedacht, als ich 1999 mein Abitur gemacht hatte, sondern genau umgekehrt: erst Bildung, dann Geld verdienen, weil Bildung eine Investition ist, die sich auf jeden Fall lohnen wird. Etwas anderes war gar nicht in meinem Kopf angekommen. Ich hatte auch keine Kontakte zur Berufswelt, und meine Erfahrungen mit bezahlten Jobs waren höchst beschränkt. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, was mich ein Studium kosten und wie es danach weitergehen würde. Meinen Bildungskredit, davon war ich zutiefst überzeugt, würde ich danach schon zurückzahlen können. Schließlich hatte ich dann ja studiert und würde sicherlich einen anständigen Job bekommen.
Und außerdem wollte ich unbedingt Studentin werden, endlich in der geistigen intellektuellen Welt ankommen, von der meine Mutter und ich so lange geträumt hatten. Alles andere würde sich zeigen, wenn ich es erst auf die Uni geschafft hatte. Ich würde herausfinden, was ich am besten konnte. Ich würde meinen Traumjob finden. Aber spätestens im zweiten Semester beneidete ich meine Kommilitonen, die schon Berufserfahrung oder eine Ausbildung hatten und sich von dem Unigehabe und der Rhetorik der Professoren nicht so einschüchtern ließen. Ihnen schien es viel leichter zu fallen, die richtigen Kurse und Inhalte auszuwählen und zu beurteilen, was wichtig war und was nur der Abschreckung diente.
Ich begann mein Studium also mit dem festen Vorsatz, es so gut und schnell wie möglich durchzuziehen, eisern zu sparen, damit ich nach dem Ende gleich meine Schulden zurückzahlen könnte. Wer die ganze Summe auf einmal zurückbezahlt, dem werden einige Prozent der Gesamtsumme erlassen. Ich fühlte mich geradezu verpflichtet, mein Studium nicht nur in der Regelstudienzeit abzuschließen, sondern schneller zu sein. Aber diesen Traum gab ich spätestens nach der Hälfte des Studiums und einer grausigen Zwischenprüfung in meinem Hauptfach Publizistik auf. Und ohnehin: Wer hat denn direkt nach dem Studium das Geld, sein BAföG in einem Rutsch zurückzuzahlen, wenn man keine Rücklagen hat?
In den skandinavischen Ländern kann man frei entscheiden, wie viel Prozent der Studienunterstützung, die für alle aus allen Gehaltsklassen gleich ist, man pro Jahr ausbezahlt bekommen möchte. In Deutschland geht das nicht. Und was man hat, auch wenn es nicht viel ist, gibt man aus. Ich hatte eine genaue Studienplanung, mein Pensum vom ersten
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