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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Studentenbuden Status verleihen.
    Auch beim Essen legte Philine Wert auf Qualität. Fleisch, Wein oder gar Champagner zu einer besonderen Gelegenheit. Sie lebte in einer Welt, in der der Satz »ich habe kein Geld« oder »ich habe diesen Monat wenig Geld« etwas ganz anderes bedeutete als in meinem Alltag. Und manchmal verwirrt es mich, wie leichtfertig dieser Satz auch von jenen gesagt wird, die um seine existenzielle Bedeutung gar nicht wissen. Meistens nehmen sie dann auch gar nicht richtig ernst, wenn man durchblicken lässt, man habe gerade kein Geld. »Jaja, ich hab auch kein Geld, aber egal. Stell dich nicht so an und mach mit! Es wird schon wieder.« Aber bei mir und meinen Eltern ist es nicht egal. Und es wird auch nicht einfach wieder.
    Wie sehr man Geld auch benutzen kann, um sich von Verantwortung freizukaufen, habe ich auch durch Philine kennengelernt. Es war der Umzug, der die WG nach vier Jahren auflösen sollte. Ich hätte gern jemandem meine Schlüssel in die Hand gedrückt und meinen Kram in die nächste Übergangslösung transportieren lassen. Ich war gerade erst aus dem Ausland zurückgekommen, hatte meine Magisterarbeit nur Tage vorher nach langen schlaflosen Wochen abgegeben und ging arbeiten. Aber ich hatte keinen Führerschein, und so musste ich meine Zeitplanung für den Transport nach den anderen richten. Philine, die schon seit einigen Monaten bei uns in der WG wohnte, hatte in einer Hauruckaktion die Küchengegenstände eingepackt und alles, was sie keiner Person zuordnen konnte, in den Müll geworfen. Damit, so fand sie, hatte sie ihr Räumungssoll erfüllt, andere konnten den Rest erledigen. Ich konnte mich nicht so davonstehlen. Vermutlich ist es das Wissen um die eigene Zahlungskraft, die eine ganz andere Einstellung zum Leben ermöglicht – eine, die leichter ist, flexibler, nützlich an der Uni, auf dem Arbeitsmarkt und manchmal auch unter Freunden.
    Während ich bis spät in die Nacht die letzen Lappen in der Wohnung aufsammelte, den Restmüll zusammenräumte und die Türklinken übergabefertig putzte, verabschiedete sich Philine und lud für den nächsten Tag zu einem Cocktail ein. Für mich war damit unsere Freundschaft beendet. Sie hatte sich freigekauft. Aber niemanden sonst hat diese Episode so aufgeregt wie mich. Vielleicht habe ich übertrieben. Bin ich einfach eifersüchtig gewesen, weil ich es auch gern so gemacht hätte?
    Philine, die ich vorher oft bewundert hatte, kam aus einer Welt, die mir fremd war und die ich nie richtig durchschaute. Ihre Freunde, die sie über ihr Medizinstudium kannte und zuweilen zum Essen einlud, waren mir meist unsympathisch. Von den anderen in der WG wurden sie bewundert, ich empfand sie als Aufschneider. Ich war auch nie ganz sicher, ob ich Philines Herzlichkeit vertrauen konnte. Sie trat mir gegenüber zu oft gönnerhaft auf. Ich sei ein starker Charakter, sagte sie, oder wies mich auf meine Schwächen hin und wie ich damit umgehen könne. Was hatte sie davon? Manche Menschen geben sich gern als emotionale Wohltäter, auch wenn sie davon keine Vorteile haben. Mich macht ein solches Verhalten sehr skeptisch. Ich traue solchen Menschen nicht.
    Umgekehrt gab es das offensichtlich auch: Auch mich haben Freunde missverstanden und mir die Freundschaft gekündigt. Vielleicht haben sie sich ausgenutzt gefühlt, vielleicht habe ich sie zu oft um einen Gefallen gebeten. Vielleicht habe ich zu viel von Problemen geredet, bei denen Geld eine Rolle spielt und ich nicht mithalten konnte.
    Wenn ich Geld hatte, gab ich es für Bücher, Sprachkurse und kurze Reisen in meine skandinavische Wahlheimat aus, um meine Freunde dort zu besuchen und mich auf dem Laufenden zu halten. Und ich leistete mir einen Portugiesisch-Sprachkurs. Denn langsam verschob sich mein persönliches Interesse vom Norden in den Süden. Mit meiner letzten BAföG-Nachzahlung tat ich etwas total Verrücktes. Ich kaufte ein Flugticket nach Brasilien. Ich hatte nur wenige hundert Euro zur Verfügung, um in Brasilien etwas unternehmen zu können, aber ich konnte bei Freunden wohnen und drei Wochen bleiben.
    Das Ticket in meinen Händen fühlte sich an, als wäre es aus Gold. Ich hatte so lange schon davon geträumt, Europa einmal zu verlassen. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich würde etwas Großes erleben, einmal nicht nur träumen, sondern wirklich in den Flieger steigen, den meine Schulfreunde schon vor zehn Jahren für ihre Austauschjahre in den USA und Kanada bestiegen

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